Ein Jahr nach dem Erdbeben in Nepal: gemeinsamer Wiederaufbau

Die Phikuti-Fussgängerbrücke in Dolakha, 135 Kilometer westlich von Kathmandu, ist eine Lebensader für die umliegenden Gemeinden. Die Brücke wurde 1986 mit der Unterstützung der DEZA gebaut und verband tausende Dorfbewohner mit dem Bezirkshauptort Charikot und den Gesundheitsstationen, Schulen und Märkten auf der anderen Seite.

Doch das Erdbeben, das Nepal im April 2015 heimsuchte, brachte die 62 Meter lange Fussgängerbrücke so stark ins Schwingen, dass das Handlaufkabel riss und die Brücke aus dem Gleichgewicht geriet. Dadurch wurde die zentrale Verbindung der umliegenden Gemeinden gekappt. Der nächste Übergang war mehr als eine Wegstunde entfernt. Die Brücke war eine von 110 Fussgängerbrücken in 16 Bezirken in Nepal, die durch das Erdbeben und dessen Nachbeben beschädigt wurden.

Die durch Erdrutsche beschädigten Fusswege wurden durch den Monsun, der im Juni 2015 einsetzte, noch gefährlicher. Die Dorfbewohner taten sich zusammen, um mit einem Kran die Kabel wieder anzuspannen. Die Brücke war immer noch schief, konnte aber wieder einzeln passiert werden.

«Es war immer noch sehr beängstigend, aber wir mussten zur Schule gehen», erzählt die elfjährige Praju Tamang, deren Mutter sie in einem wagemutigen Gang über die schiefe Brücke zu tragen pflegte, damit sie den Unterricht nicht verpasste. Es gab Schülerinnen und Schüler, die mit einem Autoschlauch über den Fluss schwammen oder bei Verwandten auf der anderen Seite blieben, um zur Schule gehen zu können.

Das ist jetzt vorbei. Ein Jahr nach dem Beben ist die Phikuti-Fussgängerbrücke von nepalesischen Regierungsstellen mit Unterstützung der DEZA wieder aufgebaut worden. Die Unterstützung wird auf sämtliche 110 erdbebengeschädigten Fussgängerbrücken ausgedehnt, die für rund 200’000 Menschen in mehr als 95 Dörfern die Verbindung zur Aussenwelt darstellen.
«Jetzt ist es sehr einfach, wir können wenn nötig sogar unser Vieh zum Tierarzt bringen. Wir können jederzeit hinübergehen und holen, was wir brauchen», sagt Ishwari Adhikari Khadka, ein Anwohner.

Der ehemalige Arbeitsmigrant Dilli Gubaju musste zusehen, wie das schwere Erdbeben im April 2015 sein Haus komplett zerstörte. Seine zehnköpfige Familie, einschliesslich Eltern und Geschwister, hätte eine zweite Regenzeit in einer Notunterkunft verbringen müssen, hätte Dilli nicht die Chance bekommen, eine Ausbildung als Fachkraft für den Bau erdbebensicherer Häuser zu absolvieren. Seine Familie ist vor kurzem in eines der ersten Musterhäuser gezogen, die in seinem Dorf gebaut wurden.

«Dieses Haus ist dank seiner Zugbalken stärker und widerstandsfähiger als ältere Häuser. Ich glaube nicht, dass es bei einem solchen Erdbeben einstürzen würde», erklärt Dilli und greift dabei zu Fachbegriffen, die er kürzlich gelernt hat. «Ich glaube, ich kann jetzt anderen beim Bauen helfen.»

Dilli war eine von zehn Personen aus seinem Dorf, die im Rahmen des sogenannten Beschäftigungsfonds, eines von der DEZA unterstützten Projekts, einen 50-tägigen Lehrgang im Baubereich absolviert haben.

Beim Erdbeben im Jahr 2015 wurden über 500’000 Privathäuser zerstört und nahezu 280’000 teilweise beschädigt. Beim Wiederaufbau des Landes mangelt es an qualifizierten Maurern und Zimmerleuten. Auch Fachleute, die Kenntnisse in erdbebensicherem Bauen haben, gibt es zu wenige.

Die Laufzeit des Beschäftigungsfonds, der schon zur Durchführung staatlich zertifizierter Lehrgänge für rund 100’000 Arbeitskräfte beigetragen hatte, wurde verlängert, um Nepals Wiederaufbau zu unterstützen. Das Projekt hat zum Ziel, 3000 Personen aus den Katastrophengebieten in Berufen zu schulen, die beim Wiederaufbau benötigt werden, und sie mit den Techniken für erdbebensicheres Bauen vertraut zu machen.

«Bei der Auswahl der Personen konzentrieren wir uns auf Arbeitslose aus benachteiligten Verhältnissen, die Fähigkeiten erwerben müssen, die ihnen helfen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen», sagt Ganga Bahadur Bishwakarma, der Ausbildungskoordinator. Mindestens 4000 Häuser sollen gebaut werden, wobei die Teilnehmenden ihre eigenen Häuser bauen und zusätzlich ihren Nachbarn zur Hand gehen.

Die neunzehnjährige Sabina Gubaju, die das 10. Schuljahr abgeschlossen hat, nahm zusammen mit Dilli an der Ausbildung teil und hat ihr Haus fertig gestellt. «Ich habe mitgemacht, weil ich etwas lernen wollte. Ich habe gelernt, wie man ein Fundament legt, und andere bauspezifische Fertigkeiten», sagt Sabina und fügt hinzu, dass sie hofft, dank dieser Ausbildung später eine Arbeit zu finden.

Die 36-jährige Indira Karki baute früher in ihrem Garten in Betali eine bunte Palette von Gemüse an. Dicke Kürbisse sorgten neben roten Chilischoten und grünen Bohnen für regelmässigen Nachschub in ihrer Küche, mit dem sie ihre vierköpfige Familie ernähren konnte. Nachdem aber das Erdbeben ihr Haus beschädigt und ihre Saatgutvorräte zerstört hatte, stand sie vor Beginn der neuen Pflanzsaison mit leeren Händen in einer Notunterkunft da.

«Einige Samen waren begraben, einige verloren und andere unbrauchbar, als wir versuchten, sie aus dem Schutt auszugraben», erinnert sich Karki. Neben den Saatgutbehältern und Lagervorrichtungen wurden auch mehrere Bewässerungskanäle zerstört.

Ein Jahr danach hat Karki Pilze, die aus dem Boden spriessen, und eine grössere Vielfalt an Gemüse als zuvor. Dies war möglich dank einem Programm zum Wiederaufbau bäuerlicher Familienbetriebe (Rebuilding Family Farming, RFF), das von der im Agrarsektor tätigen Organisation LI-BIRD durchgeführt und von der DEZA unterstützt wird. Im Rahmen des Programms wurde Saatgut an Familien wie jene von Karki verteilt, die nach dem Erdbeben existenziell darauf angewiesen waren.

«Hätten wir dieses Saatgut nicht erhalten, wäre uns nichts anderes übrig geblieben, als es zu kaufen», sagt Karki, und das zu einem Zeitpunkt, als das Geld für den Lebensunterhalt der Familie und den Wiederaufbau des Hauses ohnehin knapp war.

Im Rahmen des RFF-Projekts wurde Saatgut für verschiedene Sommer- und Wintergemüse an erdbebengeschädigte Bauern abgegeben, damit sie ihre Anbausysteme wiederherstellen und durch den Verkauf des Überschusses ihr Einkommen aufbessern können. «Wir streben eine Multiplizierung an, damit die Bauern ihre Existenz langfristig sichern können», erklärt Meena Gurung, die für LI-BIRD arbeitet.

Das Projekt wurde in 45 Dörfern in verschiedenen Bezirken Nepals umgesetzt. Darüber hinaus unterstützt das Projekt das landwirtschaftliche Subventionsprogramm der Regierung, das auf die Beschaffung und Verteilung von Betriebsmitteln fokussiert. Dadurch sollen insgesamt über 30’000 Haushalte erreicht werden.
Ranju Ghimire, die während des Erdbebens ebenfalls ihr Saatgut verloren hat, ist dankbar, dass mit dem Programm neue Kulturpflanzen eingeführt wurden: Die Ernährung der Familie wurde durch gesunde Gemüsesorten bereichert, die sie früher nicht selbst angebaut hatte.

«Ich fragte mich jeweils, wie und wo Karotten wachsen; jetzt weiss ich es», sagt Ghimire. «Die kostenlose Saatgutabgabe hat unser Leben wirklich erleichtert».

Ein so tragisches Ereignis wie ein Erdbeben und die Verwüstung, die es mit sich bringt, kann Auswirkungen auf die Psyche haben. Während sich einige Menschen rasch erholen, werden andere noch viele Monate später vom Trauma verfolgt.

Das Zentrum für Psychische Gesundheit und Beratung (CMC-Nepal) bietet in zehn Distrikten psychologische Betreuung an für die Überlebenden des Erdbebens. Die DEZA finanziert die Aktivitäten des CMS in Dolakha, Ramechhap und Okhaldhunga.

Im Rahmen dieses Programms fanden letztes Jahr 8246 Orientierungsveranstaltungen und 709 Individualberatungen statt, wobei 46 Personen an Fachstellen überwiesen wurden. Die Berater stellten posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD), Depressionen und Substanzenmissbrauch (hauptsächlich Alkohol) fest. Es wurden auch Rückfälle von psychischen Erkrankungen und epileptische Anfälle verzeichnet.

Als das Erdbeben ausbrach, wärmte die 33-Jährige Sita (nicht ihr richtiger Name) gerade Wasser, um ihr Baby zu baden. Sie blieb mit ihren drei Kindern im Haus und wurde von den Trümmern begraben, als eine Wand des Hauses einstürzte. Sita wurde gerettet, aber als sie hörte, dass ihre 6-jährige Tochter nicht überlebt hatte, fiel sie in Ohnmacht.

«Als ich wieder erwachte, weinte ich... ich fühlte mich so schrecklich. Ich suchte meine Kinder», erzählt Sita. Sie wurde in ein Spital in Kathmandu gebracht und blieb mehr als acht Wochen in der Stadt, die Rückkehr in ihr Dorf war traumatisch. Der Tod ihrer Tochter trübte ihre Gedanken, was immer sie auch tat.

«Und dann traf ich Sie, und Sie haben mich beraten. Und seither geht es mir langsam besser», sagt sie zu ihrer Beraterin. «Wenn ich Sie nicht gefunden hätte, wer weiss, was mit mir geschehen wäre. Vielleicht wäre ich verrückt geworden. Ich habe mich so sehr verändert, das sage ich zu mir, wenn ich mich im Spiegel betrachte», sagt sie.

Laxmi Tamang, Beraterin beim CMC-Nepal erzählt, dass es den Opfern des Erdbebens am Anfang sehr schwer fiel, über ihre Erlebnisse zu sprechen, aber durch regelmässige Beratungsgespräche konnten sie Vertrauen aufbauen und sich öffnen. Sie erinnert sich an ein Gespräch mit besorgten Eltern, die sie aufsuchten, weil sich ihr 10-jähriger Sohn nach dem Erdbeben anders verhielt. Der Junge hatte ein Bein gebrochen, aber seine Schreie und seine Panikanfälle waren viel besorgniserregender.

«Selbst der Wind machte ihm Angst. Denn er dachte, dass wieder ein Erdbeben kommt. Er wollte nicht im Haus bleiben und weinte die ganze Zeit», erzählt die Mutter. «Aber nachdem Sie gekommen sind, geht es ihm wieder besser», sagt die Frau und schaut zu Laxmi Tamang: «Mir geht es nun sehr gut.»

Während Jahrzehnten wurde der ab und zu auftretende «Schweiss» an der grossen Steinsäule vor dem Dolakha-Bhimeshwor-Tempel als Vorzeichen einer Katastrophe gedeutet, die Nepal und die frühere Königsfamilie heimsuchen sollte. Die Einheimischen beobachteten dieses Phänomen vor verschiedenen politischen und sozialen Unruhen im Land, namentlich vor dem königlichen Massaker 2001, der Volksrevolution 2006, die das Ende der Monarchie bedeutete, und vor dem Erdbeben 1934.

Aber das verheerende Erdbeben und seine Nachbeben vom April und Mai 2015 konnten selbst die Götter nicht vorhersagen. Während der Bhimeshwor-Tempel verschont blieb, wurden in ganz Nepal rund 700 Kulturdenkmäler zerstört oder beschädigt, darunter auch in der historischen Newar-Siedlung in Dolakha, die gut 100 Kilometer westlich von der Hauptstadt Kathmandu liegt.

«Hier starben nur wenige Menschen, aber das Erdbeben hat unser ganzes Kulturgut zerstört», sagt Buddhi Bahadur Achaju, der zur Familie der Priester und Wächter des dreistöckigen Tripura-Sundari-Tempels in Dolakha gehört, der durch das Erdbeben ganz eingestürzt ist. Der Tempel ist dem Erdboden gleichgemacht, die Göttin wurde provisorisch in einem von den Bewohnern gebauten Gebäude untergebracht. «Unser kulturelles Erbe ist unser Stolz, es ist sinnbildlich für unsere Gemeinschaft und für unsere Einzigartigkeit. Ohne den Tempel gibt es hier nichts Aussergewöhnliches mehr», fügt Achaju an.

In der Dolakha-Siedlung wurden fast 90% der Häuser und wichtigsten Tempel vom Erdbeben zerstört. Die DEZA ist daran, mit den Einheimischen und der Regierung die wichtigen religiösen Stätten wieder aufzubauen. Im April 2016 lagen die detaillierten Pläne für einen respektvollen und sorgfältigen Wiederaufbau auf dem Tisch. Vorgesehen ist der Einsatz von auf die heutigen Bedürfnisse angepassten traditionellen Techniken. Die Arbeit soll demnächst beginnen.

«Wir sind sehr glücklich und dankbar für die Wiederaufbauhilfe. Ohne diese Initiative hätte sich alles verzögert wegen fehlender Mittel und allzu viel Bürokratie», sagt Jiwan Kumar Shrestha, Mitglied der Geschäftsleitung des Dolakha Bhimeshwor Tempels.
Dolakha ist aus historischer Sicht wichtig für Nepal. Die Siedlung war auf der alten Handelsstrasse ein bedeutender Ort zwischen Nepal, Indien und Tibet. Die Tempel hatten seit jeher Pilger von nah und fern angezogen. Dadurch entstanden Arbeitsplätze und verschiedene Wirtschaftsaktivitäten. 

«Seit dem Erdbeben kommt niemand mehr», bedauert ein lokaler Führer. «Der Wiederaufbau der Tempel wird dazu beitragen, den Religionstourismus wieder in die Gegend zu bringen.»

Tausende von Überlebenden des verheerenden Erdbebens wohnen auch gut ein Jahr nach der Katastrophe immer noch in provisorischen Unterkünften und Lagern. Über 500’000 Häuser und mehr als 8300 Schulen wurden durch das Erdbeben zerstört.

Nationale und internationale Organisationen, die sich am Wiederaufbau des Landes beteiligen, gründeten im Januar 2016 die «Housing Recovery and Reconstruction Platform» (HRRP). Zu ihren Aufgaben gehört die Koordination der Wiederaufbauhilfe. Sie wird von UN-Habitat (Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen) und der IOM (Internationale Organisation für Migration) geführt und unterstützt die Regierung Nepals nach den Nothilfeeinsätzen beim Wiederaufbau.

«Die Idee war, eine Plattform zu bilden, um die Herausforderungen beim Wiederaufbau der Häuser besser bewältigen zu können», erklärt Jennifer Duyne Barenstein, Schweizer Expertin auf diesem Gebiet. Sie wurde von  der DEZA entsandt und leitet gegenwärtig das HRRP-Team. «Einerseits überwachen wir auch weiterhin den Wiederaufbau in den 14 am stärksten betroffenen Distrikten und andererseits bieten wir den internationalen und nationalen Partnerorganisationen sowie der nationalen Wiederaufbaubehörde fachliche Beratung.»

Die HRRP unterstützt die Behörden bei Aufgaben wie Koordination, strategische Planung, Schulung, Ausarbeitung von technischen Leitlinien und Förderung der Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Organisationen, dem Privatsektor und öffentlichen Vereinigungen, die im Wiederaufbau aktiv sind.

«Es gibt hier so viele internationale Organisationen und lokale NGOs, die sich am Wiederaufbau beteiligen wollen. Wir setzten uns dafür ein, dass der Wiederaufbau gut koordiniert und transparent ist und dass die Hilfe der Regierung und der ausländischen Partner allen betroffenen Regionen gleichermassen zugutekommt», unterstreicht Duyne Barenstein. Wichtigstes Anliegen ist die Vermeidung von Doppelspurigkeiten.

Mittlerweile zählt die HRRP über sechzig Organisationen, einschliesslich der DEZA, und verfügt über ein dichtes Netz an Büros mit Koordinationsverantwortlichen und Informationsmanagern in den 14 betroffenen Distrikten. «Die Plattform erleichtert die Koordination und Kommunikation», sagt Bhisma Bhusal, ein Sprecher der nationalen Wiederaufbaubehörde.