31.07.2018

Rorschach, 31.07.2018 - Ansprache von Bundesrat Ignazio Cassis an der Bundesfeier von Rorschach, Rorschachherberg und Goldach - Es gilt das gesprochene Wort

Rednerin/Redner: Departementsvorsteher, Ignazio Cassis

Gueten Obig mitenand!

Und danke für diese freundliche Einladung!

Ich halte heute Abend sehr gerne die 1. Augustansprache am Bodensee.
Dabei werden Sie von mir kein einziges Mal den Begriff «Randregion» hören. Und zwar, weil er kreuzfalsch ist!
Ich stehe vor Ihnen Mitten in Europa, im Herzen einer wirtschaftlich pulsierenden Wirtschaftsregion, deren Bewohner rund um den Bodensee von den gleichen Tugenden geprägt sind:
Fleiss, Zuverlässigkeit, Schaffenskraft.

Sei es im Kanton St. Gallen, im Kanton Thurgau, im Kanton Schaffhausen, in Baden-Württemberg oder in Vorarlberg. Die beiden  Appenzell zähle ich auch dazu.
Ich stelle mit Freude fest, dass Rorschach, Rorschacherberg und Goldach am 1. August immer noch vereint sind, trotz gescheiterter Gemeindefusion vor vier Jahren!

„Lassen Sie mich einen persönlichen Freund speziell begrüssen: den Rorschacher Stadtpräsidenten und Nationalrat Thomas Müller. Mit ihm verbindet mich mehr als Politik Thomas, Du hast mich für Heute vom Arztgeheimnis entbunden.

Du hattest im Nationalratsaal vor einiger Zeit einen kleinen Notfall, der mein Eingreifen als Arzt bedingte. So etwas schweisst natürlich zusammen. Auch wenn ich mit Dir damals geschimpft habe: Thomas, Du machsch z’ vil. Du bisch halt mengmol en verruckte Chaib».

2. Italianità
Lassen Sie mich als italienisch sprechender Bundesrat aus dem Tessin zuerst auf etwas eingehen, dass mir am Herzen liegt. Auf die Übernahme der italienischen Lebensart in der Schweiz. Ich spreche dabei von der Italianità, die zwar seit Jahrhunderten bereits Teil der Schweiz war, doch mit der Einwanderung der italienischen Gastarbeiten eine neue Dimension erreicht hat.

Rorschach war besonders davon betroffen.
Alles begann in den 60erJahren im letzten Jahrhundert - während der anlaufenden Hochkonjunktur. Zu einer Zeit, als die italienischen Gastarbeiter in Scharen nach Rorschach geholt wurden. «Geholt wurden» ist der richtige Ausdruck, denn sie mussten zum Teil hin Italien angeworben werden, weil bei uns ein akuter Arbeitskräftemangel herrschte.
Arbeit fanden sie vor allem in der Feldmühle.
Als wahre Fundgrube für die These, dass Rorschach eine Schlüsselrolle bei der Italianità spielt, entpuppten sich alte Geschäftsberichte des Migros-Genossenschaftsbundes und der Genossenschaft Migros Ostschweiz.
So erfährt man daraus, dass die Umsätze im neuen Migros-Markt in Rorschach 1960 richtiggehend «explodierten». Wegen den Gastarbeitern aus Italien. Und mit ihnen kam die italienische Lebensart in den Alltag – vor allem zuerst einmal über den Magen.
Der Umsatz von geschälten italienischen Tomaten stieg im Jahre 1962 in den Migros-Läden um 150%. Mit überraschenden Folgen.
Ich zitiere aus dem Geschäftsbericht des Migros Genossenschaftsbundes aus dem Jahre 1962:
«Unser Verkaufspreis für geschälte italienische Tomaten ist derart günstig, dass nach Italien zurückkehrende Gastarbeiter sich noch reichlich eindecken! Diese Tomaten werden nämlich bei uns billiger verkauft als in Italien selbst».
Nach den geschälten Tomaten kamen die Teigwaren. Mit «besonderer Genugtuung» stellte man in der Migros-Zentrale fest, dass ihre Teigwaren von den italienischen Gastarbeitern ganz offensichtlich bevorzugt werden. Die sei umso erfreulicher als die Italiener zu den besten Teigwarenkennern der Welt gehörten.

Auf die Teigwaren folgten, Pizza, Tiramisu, Latte macchiato, die italienischen Restaurants, das Design – und bei Ihnen in Rorschach der Chorgesang.
Sie wissen, was ich anspreche, den Corale Santa Cecilia, den ältesten, noch aktiven Immigranten-Chor der Schweiz.
Thomas Müller hat in einem Programmheft festgehalten: «Auf den ersten Blick steht die Corale Santa Cecilia für singen: Für Rorschach ist sie aber mehr: Der Chor ist Teil der Stadtgeschichte».

Weshalb erzähle ich Ihnen das alles?
Weil die Italianità auch ein Stück Schweizer Geschichte ist. Was aber mit den italienischen Gastarbeitern zu Beginn nicht immer einfach war. Diese Entwicklung weckte nämlich Überfremdungsängste. Ich will bewusst nichts verklären.
So überrascht es nicht, dass Rorschach im Jahre 1970 die schweizweit abgelehnte Schwarzenbach-Initiative annahm. Zwar hauchdünn mit einer Ja-Mehrheit von nur 40 Stimmen: 1049 Ja, 1009 Nein, bei einer Stimmbeteiligung von 77,8 Prozent. Die Gemeinden Rorschacherberg und Goldach lehnten hingegen die Initiative ab, Goldach relativ deutlich. Die Schwarzenbach-Initiative verlangte damals eine Begrenzung des Ausländeranteils von 10 Prozent.
Trotz schwierigen Situationen: Die Integration funktionierte am Schluss doch und die Italianità wurde als Bereicherung empfunden.


Wir sind am Schluss alle – und insbesondere die Deutschschweizer und die Romands – ein Stück weit Italiener geworden. Mehr als wir vielleicht glauben. 77,5% der Schweizerinnen und Schweizer essen gerne Italienisch. Werfen Sie mal einen Blick auf eine Speisekarte irgendeines Restaurants.

Professor Renato Martinoni – bis vor Kurzen Lehrstuhlinhaber an der UNI St. Gallen für die italienische Literatur- und Kulturgeschichte - hat dies stichprobenartig in der Mensa seiner Universität getan.
Fünf von sieben Gerichten auf dem Menuplan waren zumindest zum Teil italienische.
Die Italienerinnen und Italiener sind mit 306’000 Personen auch heute immer noch die grösste «Comunità di stranieri in Svizzera» - eine Gemeinschaft die notabene eine Schweizer Landessprache spricht! Die Schweiz ist nämlich nach Italien das zweitgrösste Land, in dem Italienisch Landessprache ist.
Und dies seit 1848.
Und nun einige Gedanken zu Rorschach!

3. Rorschach
Ich zolle am heutigen Vorabend des 1. August allen meinen bundesrätlichen Respekt, die in schwierigen Zeiten zur Neuentwicklung der Stadt beigetragen haben.
Die Schliessung der einst grössten Stickereifabrik der Welt zu Beginn der 80Jahre war natürlich ein herber Schlag: Gegen 1 000 Arbeitsplätze von einem Tag auf den anderen weg. Ja, ich spreche von der Feldmühle.
Zuletzt hatte man es noch mit der Produktion von Kunstseide versucht, doch dann war auch damit Schluss. Ein derartiger Verlust steckt eine Region wie Rorschach nicht einfach weg.
Aber Sie haben sich dem Wandel gestellt, Entwicklungsprojekte auf die Beine gestellt oder zumindest unterstützt. Rorschach soll weiter zur attraktiven Wohnstadt mit Seeanstoss ausgebaut werden. Der Turnaround ist geschafft.

Die Einwohnerzahl nimmt wieder leicht zu und auf dem riesigen Feldmühleareal soll in wenigen Jahren neues Leben entstehen, mit Wohn und Gewerbebauten.

Und nicht nur Thomas Müller will es noch nach zahlreichen gescheiterten Anläufen erleben, dass man in Rorschach in Abwandlung des alten Schweizer Films «Hinter den sieben Geleisen» nicht mehr sagen kann: «Vor den sieben Barrieren».
Sieben Niveau-Bahnübergänge gibt es in Rorschach tatsächlich noch. Sie überstanden mehrere Volksabstimmungen.

Diese viel zitierte Eigenart soll nun in den kommenden Jahren mit dem Entwicklungskonzept Feldmühleareal gelöst werden. Dies im Zuge des neuen, geplanten Stadt-Bahnhofes.
Die Einweihungs-Feierlichkeiten werden noch etwas auf sich warten lassen.

Aber Sie haben noch genug zu feiern – bereits im kommenden Jahr.
Zum Beispiel 150 Jahre Seelinie der Eisenbahn.
Und natürlich 50 Jahre Mondlandung … einige von Ihnen schauen mich nun etwas ratlos an.

Ja, sie haben schon richtig gehört. Die Mondlandung wird auch in Rorschach gefeiert, weil vor 50 Jahren aus Anlass dieses historischen Ereignisses die Wasserglace Rakete von Frisco auf den Markt kam.
Damals als eigenständige Marke. Heute gehört zwar die Rorschacher Firma zum Néstle-Konzern, aber die Rakete wird immer noch in Rorschach hergestellt.

Man habe zum Jubiläum einiges vor, liess man uns wissen, schliesslich sei die Rakete mit 8,5 Millionen verkauften Stück pro Jahr die meistverkaufte Glace der Schweiz.


4. Ostschweiz - Tessin
Sehr verehrte Besucherinnen und Besucher
Nun also zur Frage «Was haben die Ostschweiz und das Tessin gemeinsam»?
Beides sind Grenzregionen. Und Landesgrenzen sind seit eh und je für solche Regionen eine wirtschaftliche und kulturelle Herausforderung.
Die Grenzlage eröffnet immer auch Chancen und Impulse, weil man lernen muss, über die Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten.
Die Bodenseeregion ist dafür ein leuchtendes Beispiel. Unbürokratisch und politisch unbelastet arbeiten zahlreiche staatliche Einrichtungen international zusammen. Erfolgreich!
Nur nebenbei: So würde ich mir manchmal auch das bilaterale Verhältnis mit der EU wünschen.
Und ein Beispiel: 17 Wasserwerke rund um den See sorgen für die Trinkwasserversorgung von 4,5 Millionen Menschen. Bis in die 109 Kilometer entfernte Grossstadt Stuttgart. Ohne zwischenstaatliche Probleme.
Wir sind gut!
Und als Aussenminister verweise ich auf einen weiteren Vorteil: Unsere Grenzregionen haben beide eine Brückenfunktion.


5. Neun Monate
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Rorschach, Rorschacherberg und Goldach
Neun Monate bin ich nun im Amt. Die Schwangerschaft ist beendet und die Geburt hat stattgefunden. Die Geburt in einer neuen Funktion, in einer Arbeit, die mir ausserordentlich gefällt.

Ich war ziemlich oft in der Zeitung: Etwas zu oft für meine Begriffe. Das hat sicher damit zu tun, dass meine Dossiers ständig erklärt werden müssen. Immer wieder und immer wieder aufs Neue.
Vor allem eines… Das Europa-Dossier.


Und dann ist halt, nach langen Jahren der Absenz, die südländische politische Kultur wieder im Bundesrat vertreten. Und die tickt halt doch eine Spur anders.
Ich liebe es manchmal etwas laut zu denken, um zu spüren, was überhaupt gedacht wird.
Nicht zuletzt von der Bevölkerung, die in unserem Land das Sagen hat.

Zum Schluss.
Die Schweiz fährt immer am besten, wenn sie zusammenhält. Über alle Sprachgrenzen hinweg.
Es braucht das Zusammenschmieden von alemannischen Tugenden und lateinischer Spontaneität. Bei allen Unterschieden.
Ich helfe gerne, denn ich habe ja nach der Wahl versprochen, mich als Schmied zur Verfügung zu stellen.
Tragen wir Sorge zu dieser Zusammenarbeit. Sie ist unser Erfolgsrezept!

Danke, dass sie mir zugehört haben und … eine schöne 1. August Feier!


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Letzte Aktualisierung 06.01.2023

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