Herr Gass, wie erklären sie jemandem, der kein Experte in Entwicklungszusammenarbeit ist, die 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung?
Bei den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung geht es um viel mehr als um Entwicklungszusammenarbeit. Diese Ziele sind die Basis eines neuen Gesellschaftsvertrags, der die nächsten 15 Jahre die Entwicklung der Länder im Süden und im Norden prägen soll.
Zum ersten Mal sind Vertreterinnen und Vertreter von 193 Staaten, von Zivilorganisationen sowie Interessengruppen zusammengekommen und haben eine gemeinsame Vision der Menschheit im Jahr 2030 entwickelt. Oberstes Thema des Rahmenwerks ist die Armutsbekämpfung, wichtigstes Merkmal die Verbindung der wirtschaftlichen, sozialen und umweltverträglichen Entwicklung. Zentral ist das Versprechen, niemanden auszuschliessen und den ärmsten Menschen oberste Priorität einzuräumen.
Mit der Agenda 2030 werden Grundprobleme angegangen: z. B. mit Ziel Nr. 10 die Ungleichheit in und zwischen den Ländern oder mit Ziel Nr. 5 die Geschlechterungleichheit. Die wichtigsten Erfahrungen aus der Entwicklungszusammenarbeit flossen ein, deshalb bildet sie ein gutes Fundament für die kommenden 15 Jahre.
Weshalb braucht die Weltgemeinschaft diese Ziele?
Die Globalisierung hat dazu geführt, dass die Staaten voneinander abhängig sind. Es gibt sogar Stimmen, die behaupten, dass die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung eine Deklaration der Interdependenz der Völker seien und uns daran erinnere, dass Herausforderungen einzelner Länder gemeinsam gemeistert werden müssten.
Diese gegenseitige Abhängigkeit sieht man z.B. in unserem Konsumverhalten. Die Weltgemeinschaft kann zukünftig nicht Produkte aus fernen Ländern konsumieren, ohne sich für die dortigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen sowie für die Umwelt zu interessieren.
Die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung haben die Millenniumsentwicklungsziele abgelöst. Ist die neue Agenda besser und wenn ja, inwiefern?
Ja, ich würde sagen, dass die Ziele für nachhaltige Entwicklung viel besser sind als die Millenniumsentwicklungsziele. Sie sind auf der Basis eines Dialogs zwischen Staaten, Zivilorganisationen und Interessengruppen entstanden. Die Transparenz der Ziele und das Rechenschaftsbewusstsein der Beteiligten sind höher. Man kann sagen, dass die emotionale Intelligenz der UNO zur Geltung gebracht wurde. Die Millenniumsentwicklungsziele wurden hauptsächlich von Technokraten entwickelt und auf der Ebene der Entwicklungszusammenarbeit um- und durchgesetzt.
Zudem ist die Agenda 2030 vollständiger als der vorherige Zielrahmen. Sie enthält zusätzliche Ziele, z.B. in den Bereichen Klima, Wasser, Energie, Zugang zu Justiz und gute Regierungsführung. Das erschwert gleichzeitig eine Priorisierung. Deshalb ist eine weitere Auseinandersetzung mit den Zielen auf nationaler Ebene notwendig. Der Staat muss mit der Bevölkerung in Dialog treten und herausfinden, wie die Umsetzung ermöglicht werden kann und wie die Ziele Teil der nationalen Politik werden können.
Zu welchem Ziel kann die Schweiz am meisten beitragen?
Die Schweiz kann zu vielen Zielen und Unterzielen einen Beitrag leisten, speziell zu nennen sind aber drei Ziele: Ziel 12, das einen nachhaltige Konsum sowie eine nachhaltige Produktion beinhaltet, Ziel 13, die Bekämpfung des Klimawandels und natürlich Ziel 17, welches die solidarische Verantwortung der entwickelten Länder und deren Mitverantwortung für die Entwicklung in Entwicklungsländern beinhaltet.
Kann der oder die Einzelne einen Beitrag leisten, damit die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung erreicht werden und wenn ja, wie?
Ja, davon bin ich überzeugt. In einem ersten Schritt kann die Agenda 2030 z.B. auf die Ebene der Gemeinde und Vereine gebracht werden. Eine solche Gemeinschaft kann natürlich nicht zu allen Zielen einen Beitrag leisten. Es geht eher darum, ein Ziel oder deren zwei oder Unterziele herauszupicken und selbstkritisch zu prüfen, wo ein Einsatz möglich ist.
Eine Einzelperson kann z.B. weniger Energie verbrauchen und damit die Ressourcen schonen. Oder ihr Konsumverhalten hinterfragen und Produkte wählen, die etwas teurer sind, dafür gerecht und umweltverträglich produziert worden sind. Die Menschen in den Ländern des Nordens sollten ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie, bei einer gerechten Verteilung der Ressourcen auf die Weltbevölkerung, bereits mehr verbraucht haben als ihnen zusteht.
Sie waren in die Erarbeitung der 17 Ziele involviert. Welches waren die grössten Herausforderungen, die es zu meistern galt?
Eine grosse Herausforderung war das Ziel 16, das eine gute Regierungsführung beinhaltet. Obwohl die Staaten sich einig waren, dass dieser Punkt für eine nachhaltige Entwicklung wesentlich ist, wollte sich keiner in die Karten schauen lassen oder sich angreifbar machen.
Wie erwähnt geht der neue Zielrahmen weit über die Entwicklungszusammenarbeit hinaus. In der Vergangenheit waren die finanziellen Mittel jedoch bereits für die herkömmliche Entwicklungszusammenarbeit nicht im versprochenen Ausmass vorhande. Einige Entwicklungsländer fragten sich deshalb, weshalb sie Ziele integrieren sollten, die für den Norden wichtig sind, z.B. Umweltschutz, obwohl ihre eigene wirtschaftliche und soziale Entwicklung noch hinterherhinkt.