Unterstützung für Obdachlosigkeits-Forschung in Kroatien und in der Schweiz

Die DEZA finanziert ein Projekt, bei dem das Thema Obdachlosigkeit in der Schweiz und in Kroatien untersucht wird. Eine Erfolgsgeschichte.

Portrait Lynette Šikić-Mićanović beim Besuch in der Schweizer Botschaft in Zagreb.

Lynette Šikić-Mićanović beim Besuch in der Schweizer Botschaft in Zagreb. © DEZA

Wenn Lynette Šikić-Mićanović durch die Strassen von Zagreb geht, sieht sie Dinge, die den meisten Menschen nicht auffallen. «In Parks achte ich beispielsweise besonders auf Brunnen», sagt sie. «Für manche Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben, sind öffentliche Wasserstellen oder öffentlich zugängliche Toiletten wichtig, da sie sich dort waschen können.»

Eine Wasserstelle in einem Park in Zagreb.
Öffentliche Wasserstellen sind wichtig für Menschen ohne festen Wohnsitz. © DEZA

Das Forschungsgebiet der Anthropologin, die am Institut für Sozialwissenschaften Ivo Pilar in Zagreb lehrt, ist Obdachlosigkeit. Es ist ein aufwändiger und arbeitsintensiver Job. «Wir versuchen, während des ganzen Forschungsprozesses und auch darüber hinaus mit den Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern in Kontakt zu bleiben. Sie stehen aber am untersten Rand der Gesellschaft und sind häufig von extremer Armut, Stigmatisierung oder psychischen Problemen betroffen.» Normalerweise kommuniziert sie per Handy mit ihnen. Es kommt aber auch vor, dass der Kontakt zu einer Person abbricht und die Forscherin und ihr Team sie suchen müssen. «Menschen, die Obdachlosigkeit erleben, sind dazu gezwungen, ständig in Bewegung zu bleiben. Das macht ihr Leben extrem anstrengend.»

Zagreb und Split statt Paris

Zum gleichen Thema forscht auch Professor Matthias Drilling, der an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Muttenz (BL) das Institut für Sozialplanung leitet. «Mir ist vor einigen Jahren aufgefallen, dass es in der Schweiz zwar relativ viel Forschung zum Thema Armut aber praktisch nichts zum Thema Obdach- und Wohnungslosigkeit gab», sagt er.

Da er aber im öffentlichen Diskurs immer wieder die gleichen Stereotypen von Drogenkonsum und Sucht hört, hat er beschlossen, an seinem Institut eine professionellere Sicht auf das Phänomen zu schaffen. Er hat deshalb nach Partnerländern und Fördermitteln gesucht, um ein Forschungsprojekt aufzubauen und ist so auf das kroatisch-schweizerische Forschungsprogramm (Croatian Swiss Research Programme, CSRP) gestossen, das die Schweiz im Rahmen des Schweizer Erweiterungsbeitrags ausgeschrieben hat.

Kroatisch-schweizerische Forschungsprogramm

Das Forschungsprogramm läuft zwischen 2017–2023 und endete am 31. Dezember 2023. Elf Projekte wurden von der Schweiz mit vier Millionen Franken kofinanziert. Das Programm hat die Förderung der Forschung und der Wissenschaftszusammenarbeit zwischen der Schweiz und Kroatien zum Ziel. Umgesetzt wird es vom Schweizerischen Nationalfonds SNF in Zusammenarbeit mit der kroatischen Wissenschaftsstiftung (Croatian Science Foundation, HRZZ).

«Ich wusste, dass uns die Zusammenarbeit mit Kroatien zuerst mal unter Druck setzen wird», sagt Drilling. Die Forschung zum Thema Obdachlosigkeit sei dort weiter fortgeschritten als in der Schweiz und es habe bereits vor der Zusammenarbeit hochwertige Daten und Publikationen zum Thema gegeben. «Das Team aus Kroatien konnte dann aber auch eine Art Mentorrolle übernehmen, die ich für uns gesucht hatte», sagt er. Zudem ergebe eine Zusammenarbeit mit Kroatien aus wissenschaftlicher Hinsicht viel Sinn, da die Städte dort ähnlich gross seien wie in der Schweiz. «Zagreb und Split lassen sich viel besser mit Basel und Bern vergleichen als beispielsweise mit Paris», sagt Drilling.

Exzellente Zusammenarbeit

Aber auch Lynette Šikić-Mićanović gibt an, dass sie und ihr Team von der Kooperation mit der Schweiz profitiert haben. Insbesondere unterstreicht sie die gute Zusammenarbeit mit dem SNF. Diese sei in jeder Hinsicht exzellent gewesen. «Wir hatten grosse Projekte geplant, die aber teilweise von Covid-19 und dem Erdbeben in Zagreb vom 22. März 2020 zunichtegemacht wurden. Das hatte zur Folge, dass wir einige bereits gesprochene Projektmittel nicht einsetzen konnten. Der SNF ermöglichte uns aber, unser Projekt zu verlängern. So konnten wir unser ganzes Budget für die Forschung einsetzen.» 

Bei Obdachlosigkeit neigen viele dazu, den Opfern die Schuld zu geben. Es gibt starke Stereotypen, und die Leute sind sich der Strukturen nicht bewusst, die die Betroffenen in die Obdachlosigkeit treiben.
Lynette Šikić-Mićanović

Die Zusammenarbeit mit der Schweiz sei sehr eng gewesen. «Wir haben unendlich viele E-Mails hin- und hergeschickt und uns natürlich auch mehrfach getroffen. Während der Covid-Krise und nach dem Erdbeben mussten wir auf digitale Kanäle wie Skype oder Zoom umsteigen. Der Kontakt blieb aber auch danach sehr eng.» Diese Zusammenarbeit werde auch jetzt nach Ablauf des CSRP weiterlaufen, und die Teams hätten sich bereits gemeinsam um neue Beiträge beworben. So entstehe beispielsweise derzeit ein Film über Obdachlosigkeit in Kroatien, an dem auch Matthias Drilling als Gutachter beteiligt sei.

Auch in der Schweiz habe das Forschungsprojekt direkte Auswirkungen, sagt Drilling. So habe sein Team neben vielen anderen Publikationen auch den ersten Schweizer Länderbericht zum Thema Obdachlosigkeit verfasst und die erste nationale Tagung mit über 300 Teilnehmenden aus Wissenschaft und Praxis veranstaltet. Auch hier sei das Projekt teilweise von der Corona-Pandemie überschattet worden. Das habe aber auch zu lehrreichen Situationen für die Studierenden der FHNW geführt. «Während der Pandemie haben wir Organisationen in der Region angeschrieben und gefragt, wer Hilfe braucht. In der Gassenküche in Basel mussten sich beispielsweise viele Mitarbeitende zurückziehen, weil sie schon älter waren und um ihre Gesundheit fürchteten. Wir konnten die Organisationen mit einem Team von ungefähr 30 Studierenden unterstützen und so die Infrastruktur für Obdachlose aufrechterhalten.» Inmitten der negativen Erfahrung der Pandemie sei dies für die Studierenden eine grosse Bereicherung gewesen.

Etwas Schutz im Bahnwagen

Zurück nach Zagreb. Ein weiteres Objekt, das die Aufmerksamkeit von Lynette Šikić-Mićanović und ihrem Team auf sich zieht, sind am Bahnhof abgestellte Bahnwagen. Beim Hauptbahnhof zeigt sie am Ende eines Perrons auf eine Reihe abgestellter Wagen. «Wenn es kalt ist, bieten die Bahnwagen einen Rückzugsort», sagt sie. Sie kenne zwei Frauen, die regelmässig in die Wagen kletterten und darin etwas Wärme und Schutz vor der Witterung suchten. Drinnen sei es trocken und einigermassen sicher, man müsse aber auch die Abfahrzeiten der Züge genau kennen. «Wer nicht aufpasst, kann in einer anderen Stadt aufwachen.»

Abgestellte Bahnwagen am Bahnhof von Zagreb.
Bahnwagen bieten manchen Obdachlosen Schutz vor der Witterung. © DEZA

Besonders wichtig sei es ihr, mehr Verständnis für Menschen zu schaffen, die verschiedene Arten von Obdachlosigkeit erleben. «Bei Obdachlosigkeit neigen viele dazu, den Opfern die Schuld zu geben. Es gibt starke Stereotypen und die Leute sind sich der Strukturen nicht bewusst, die die Betroffenen auf die Strasse treiben.» Ihre Forschung zeige, dass Obdachlosigkeit komplex sei und es keinen einzelnen Faktor gebe, der reiche, um sie auszulösen. «Es ist sehr einfach, in die Obdachlosigkeit zu geraten aber sehr schwierig, wieder herauszukommen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass jede und jeder in diese Situation geraten kann.»

Mehr zum Forschungsprojekt

Die Teams aus Kroatien und der Schweiz arbeiten am Projekt «Obdachlosigkeit und Wege zur sozialen Inklusion: Eine vergleichende Studie über Kontexte und Herausforderungen in schweizerischen und kroatischen Städten». Ausführlichere Informationen zu den Ergebnissen der Studie sind auf der Website Homelessness.eu zu finden.

Zum Anfang