COVID-19, Frieden und Menschenrechte: «Die Geschichte beschleunigt sich»

Wenn wir an die neuartige Lungenkrankheit COVID-19 denken, haben wir sofort das Bild von überfüllten Intensivstationen mit surrenden Beatmungsgeräten vor Augen. Sie fragen sich nun, was Frieden und Menschenrechte mit dem Coronavirus zu tun haben? Viel, wenn man hinter die Kulissen der Abteilung Menschliche Sicherheit (AMS) des EDA blickt. Im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz hat die AMS unter anderem mit dem Bereitstellen eines so genannten Rapid-Response-Instruments von einer Million CHF rasch und effektiv auf die Corona-Pandemie reagiert.

Das neuartige Coronavirus illustriert mit Icons zu Menschenrechtspolitik, Friedenspolitik, Humanitäre Politik und Migrationsaussenpolitik

Rasche Reaktion (Rapid Response): Die Abteilung Menschliche Sicherheit des EDA hat für rund 21 Projekte zur Bekämpfung des Coronavirus 1 Million CHF bereitgestellt. © EDA

Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer Diktatur. Sie gehören einer unterdrückten Minderheit an. Sie haben keinen Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt und zu medizinischen Dienstleistungen. Nun kommt die Corona-Pandemie: Die Zahl der Neuinfektionen in Ihrem Land steigt exponentiell. Das Gesundheitssystem ist überlastet. Nach anfänglichem Husten und Schwächegefühl haben Sie Schmerzen in der Brust und leiden zunehmend an Atemnot. Doch medizinische Hilfe bleibt Ihnen verwehrt und sie werden Ihrem Schicksal überlassen – weil sie der unterdrückten Minderheit angehören. Leider ist das Realität in gewissen Staaten und es sind solche Situationen, welche die Abteilung Menschliche Sicherheit (AMS) mit ihrer Arbeit im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit (IZA) der Schweiz zu entschärfen hilft.

Der Schutz der Menschenrechte ist bereits in «normalen» Zeiten vielerorts eine Herausforderung. Dass Staaten Massnahmen gegen die Ausbreitung des Virus ergreifen, um ihre Bürger zu schützen und die Krise zu überwinden, ist legitim und richtig. Aber Notstandsmassnahmen können unverhältnismässig und diskriminierend sein und so Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte verletzen. Die Bevölkerung in Ländern und Regionen mit bereits bestehenden Konflikten oder Krisen ist besonders gefährdet.

Die Geschichte beschleunigt sich

Die AMS beobachtet, dass sich negative globale Trends, die bereits vor der Krise existierten, durch die Ausbreitung des Coronavirus beschleunigen. COVID-19 verschärft Ungleichheit, Ausgrenzung und Schutzbedürftigkeit speziell auch von Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Die Krise kann instrumentalisiert werden, um politische Ziele zu erreichen. Regierungen können versuchen, durch Massnahmen, die über die unmittelbare Pandemiebekämpfung hinausgehen, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu schwächen, um Profit aus der Pandemie zu ziehen oder bereits schwelende Konflikte anzufeuern. Schutzmassnahmen beeinträchtigen teilweise auch die diplomatische Handlungsfähigkeit der Schweiz zugunsten der menschlichen Sicherheit.

Die Krisensituation muss in Ländern und Regionen, die schwache oder instabile staatliche Institutionen haben und deren Bevölkerung unter Armut, Konflikten, Korruption und politischer Willkür leidet, besonders beobachtet werden. Die Ausbreitung des Virus in solchen Kontexten kann die Situation im Bereich Frieden und Sicherheit verschlimmern:

  • So kann es schwieriger werden, Friedensgespräche zwischen Konfliktparteien zu führen. Wobei das erhöhte Arbeitsvolumen beider Seiten im Kampf gegen die Pandemie vereinzelt Waffenstillstände auch begünstigen kann.
  • Verschärfte Einschränkungen der Bewegungsfreiheit können humanitären Hilfsorganisationen, wie beispielsweise dem IKRK, den Zugang zu den verletzlichsten Menschen erschweren oder verunmöglichen. Zu den verletzlichsten Menschen gehören unter anderem ältere, gesundheitlich bereits geschwächte Menschen in Gefängnissen oder Flüchtlingslagern.
  • Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie können soziale Unruhen und repressive Gegenreaktionen von Regierungen auslösen.
  • Einrichtungen wie Gefängnisse oder Flüchtlingslager können zu Hotspots von COVID-19 werden. «Social-Distancing» ist an solchen Orten kaum umsetzbar, die medizinische Infrastruktur bestenfalls rudimentär und die Hygienesituation oft katastrophal.
  • Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gegenüber Minderheiten, Migrantinnen und Migranten wie auch Flüchtlingen, können zunehmen. Diese Gruppen gehören zu den besonders Schutzbedürftigen, da sie oft keinen Zugang zum Gesundheitssystem und zu Informationen haben.
Zwei Personen in Schutzanzügen arbeiten mit medizinischen Instrumenten.
Zugang zu medizinischer Versorgung ist für Menschen in fragilen Kontexten nicht immer gewährleistet, im Angesicht von COVID -19 kann das gravierende Folgen haben. © Keystone

Rasche Reaktion der Schweiz auf COVID-19 für Frieden und Sicherheit

Die AMS reagierte rasch auf die Herausforderungen und die Geschwindigkeit der Entwicklung der Pandemie reagieren. Sie stellte eine Million CHF für rund 21 Projekte zur Bekämpfung der Pandemie bereit und konnte auf diese Weise ihre Partner vor Ort kurzfristig und unbürokratisch unterstützen. Damit leistet die Schweiz während der Corona-Krise in vier Bereichen weltweit einen wichtigen Beitrag für Frieden und Sicherheit:

Menschenrechtspolitik

Die Schweiz unterstützt die weltweiten Bemühungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der am stärksten gefährdeten Menschen im Kampf gegen COVID-19. Staaten müssen jedoch sicherstellen, dass jede Notfallreaktion auf die Pandemie das Völkerrecht respektiert und dass alle Massnahmen zur Bekämpfung des Virus recht- und verhältnismässig sind. Diese Massnahmen müssen zeitlich begrenzt und nicht-diskriminierend sein.
Schutzmassnahmen dürfen die Meinungsfreiheit nicht einschränken oder die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten sowie

Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern negativ beeinflussen. Fake-News bergen die Gefahr, dass die Bemühungen der Behörden gegen COVID-19 untergraben werden. Regierungen müssen daher sicherstellen, dass glaubwürdige Informationen über die Pandemie schnell und zuverlässig verfügbar sind, um Fehlinformationen entgegenzuwirken und von Hassreden Abstand zu nehmen.

Staaten müssen die Gesundheitsversorgung für alle garantieren. Für Menschen in Gefängnissen oder Lagern, ältere Personen, für Menschen mit Behinderungen oder Vorerkrankungen, für Obdachlose und Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen müssen Regierungen besondere Schutzmassnahmen ergreifen.

Humanitäre Politik

Die COVID-19-Pandemie verschärft humanitäre Bedürfnisse und bedroht die Schwächsten: Die an bewaffneten Konflikten beteiligten Parteien müssen einen raschen und dauerhaften Zugang für humanitäre Hilfe sicherstellen.

Kriegsparteien sind verpflichtet, den Schutz medizinischer Missionen zu gewährleisten. Dies ist seit über 150 Jahren im Humanitären Völkerrecht verankert. Im Angesicht der Pandemie erhält dies eine neue Bedeutung: Es liegt in ihrem vitalen Interesse, dass die Kranken und Verwundeten versorgt werden.

Die Schweiz ist überzeugt, dass die Einhaltung des humanitären Völkerrechts nach wie vor von zentraler Bedeutung ist. Es ist eine Voraussetzung für die Verhütung und Eindämmung von COVID-19: Je besser die Zivilbevölkerung geschützt wird - insbesondere im Fall von Konflikten und Krisen -, desto besser können lebenswichtige Bedürfnisse und Rechte auf Wasser, Nahrung, und Gesundheit auch in bewaffneten Konflikten sichergestellt werden.

Friedenspolitik

Die Schweiz begrüsst den Aufruf von UNO-Generalsekretär António Guterres zu einem weltweiten Waffenstillstand. Angesichts der globalen Bedrohung durch das Coronavirus ermutigt die Schweiz die Konfliktparteien, die Aufnahme von Feindseligkeiten zu überdenken und Waffenstillstände zu erklären. Die Schweiz bietet weiterhin ihre Hilfe beim Beenden der Gewalt durch Mediation und Verhandlungen an, für die sie über international anerkanntes Fachwissen verfügt. Frieden ist heute mehr denn je nötig, um COVID-19 bewältigen zu können.

Migrationsaussenpolitik

Staaten sollten in ihrer Reaktion auf COVID-19 umfassende Massnahmen zum Schutz von Migrantinnen und Migranten als auch von Opfern des Menschenhandels ergreifen, wie beispielsweise Corona-Tests, medizinische Behandlungen und Dienstleistungen sowie Sozialhilfe.

Massnahmen zum Schutz der Rechte und der Gesundheit der gesamten Bevölkerung, einschliesslich aller Migranten, Zwangsvertriebenen und Opfer von Menschenhandel, unabhängig von ihrem Migrations- und Flüchtlingsstatus, sind dringend notwendig und können zur Wirksamkeit der allgemeinen nationalen Massnahmen gegen COVID-19 beitragen, damit sich das Virus nicht noch mehr im Land ausbreitet.

«Gute Dienste anzubieten ist heute wichtiger denn je»

Seit dem 1. April 2020 leitet Simon Geissbühler die Abteilung Menschliche Sicherheit des EDA. Im Interview spricht er über seinen turbulenten Einstieg und über die Herausforderungen und Chancen in der Arbeit der AMS mit der Ausbreitung des Coronavirus.

Schwarz-weiss Portraitfoto von Simon Geissbühler.
Simon Geissbühler, Botschafter, Leiter der AMS © EDA

Herr Geissbühler, Sie haben ihre Stelle mitten in der COVID-Krise angetreten. Ist das für Sie eine zusätzliche Herausforderung?

Eine Abteilung mit rund 120 Mitarbeitenden zu übernehmen, ist grundsätzlich keine leichte Aufgabe. In gewisser Hinsicht hat COVID-19 mir den Einstieg sogar erleichtert: Eine Schonfrist gab es nicht. Ich musste vom ersten Tag an operationell sein. Ich mag solche Herausforderungen. Zudem hat die AMS engagierte Mitarbeitende, die mich unterstützen und mir den Start einfach gemacht haben. Der direkte Kontakt und Austausch am Arbeitsplatz aufgrund des Home-Office fehlen mir aber schon.

Können Sie sich überhaupt normal einarbeiten?

Mit meiner Ernennung Anfang November habe ich begonnen, mich einzuarbeiten und mich mental auf die neue Aufgabe einzustellen. Ich habe viele Gespräche geführt und mir aufgrund der strategischen Vorgaben Prioritäten und Ziele zurechtgelegt. Mein Anspruch ist es, dass die AMS weiter ihren wichtigen Beitrag an eine kohärente und glaubwürdige Schweizer Aussenpolitik leistet. Wir fokussieren auf Wirkung, konkrete Resultate und Qualität und denken und handeln strategisch und zielorientiert.

Die AMS ist sich «gewohnt», in Krisen- und Konfliktsituationen zu arbeiten. Wie stark verschärft COVID einen bestehenden politischen Konflikt?

Die COVID-19-Pandemie und die Massnahmen zu ihrer Bekämpfung haben direkte Auswirkungen auf die menschliche Sicherheit von Millionen von Menschen und nachgelagert auch auf die Schweiz und ihre Sicherheit und ihren Wohlstand. Viele negative globale Trends verschärfen sich: Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Demokratie, Frieden, Sicherheit, Beschäftigung und Mobilität können vor allem, aber keineswegs nur in Entwicklungsländern und fragilen Kontexten, unter Druck geraten und beeinträchtigt werden. Wir erkennen aber auch Chancen, beispielsweise im digitalen Bereich. Und einige Konflikte erhalten dank COVID-19 eine «Verschnaufpause», die für Gespräche genutzt werden können. Das Engagement der AMS, gute Dienste anzubieten, Konflikte verhindern oder lösen zu helfen, Menschen und deren Rechte zu schützen und den internationalen Rechtsrahmen zu stärken, ist heute wichtiger denn je – aus Gründen der Solidarität, aber auch aus Eigeninteresse, weil weder das Virus noch die Auswirkungen der Pandemie vor den Schweizer Grenzen haltmachen.

Gute Dienste: Ein Schwerpunkt der Schweizer Aussenpolitik

Ein Schwerpunkt der Aussenpolitischen Strategie 2020-2023 ist, dass die Schweiz sich einsetzt für eine friedliche und sichere Welt, die ein Leben ohne Furcht und Not, den Schutz der Menschenrechte sowie Wohlstand ermöglicht. Sie hat international nicht nur einen ausgezeichneten Ruf wegen ihrer humanitären Tradition, sondern auch wegen der Guten Dienste, die sie anbietet: Sie hilft Konflikte zu verhindern und zu lösen, Menschenrechte zu schützen und den internationalen Rechtsrahmen zu stärken. Dies sind auch Schwerpunkte der Strategie der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz, die im Kontext der COVID- Pandemie in den Fokus rücken.

Zum Anfang