«Mittelfristig ist es sehr wichtig, alle am Tisch zu haben»

Die russische Aggression gegen die Ukraine setzt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Druck. An der Ministerkonferenz Anfang Dezember gehe es vor allem darum sicherzustellen, dass die Organisation handlungsfähig bleibt, sagt der Ständige Vertreter der Schweiz bei der OSZE in Wien, Raphael Nägeli. Der Ministerrat werde gegenüber Russland auf die Einhaltung der vereinbarten Prinzipien pochen. Der Schweizer Botschafter ist aber überzeugt: Mittel- und langfristig kann Sicherheit in Europa nur mit, nicht gegen Russland geschaffen werden.

Ein grosses Industriegebäude, das heute als Konferenzort eingesetzt wird. Rechts oben steht das Logo des OSZE-Vorsitzes von Polen im Jahr 2022.

In der polnischen Stadt Lodz findet das diesjährige Treffen des OSZE-Ministerrats statt. © OSCE/Ministry of Foreign Affairs of Poland

Der Fokus der OSZE liegt auf der «Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» - genau dies ist durch die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine stark in Frage gestellt. Wie hat die OSZE auf die Aggression reagiert? Und was kann sie noch tun?

Mit seinem Aggressionskrieg gegen die Ukraine hat Russland nicht nur die OSZE-Prinzipien, sondern auch die UNO-Charta und die Grundsätze des Völkerrechts gebrochen. Die Arbeit der OSZE, die auf Vertrauen und Zusammenarbeit beruht, wird damit fundamental in Frage gestellt.

Porträt von Botschafter Raphael Nägeli.
Botschafter Raphael Nägeli ist Chef der Ständigen Vertretung der Schweiz bei der OSZE, den Vereinten Nationen und internationalen Organisationen in Wien. © Keystone

In dieser Situation ist es zentral, dass die übrigen OSZE-Mitglieder Einheit bewahren, das Vorgehen Russlands verurteilen und gegenüber Russland auf die Einhaltung der vereinbarten Prinzipien pochen – wenn auch nur verbal. Das funktioniert zurzeit ziemlich gut – angesichts der Heterogenität der in der OSZE vertretenen Staaten ist das nicht selbstverständlich. 

Die Herausforderung bleibt, die OSZE handlungsfähig zu erhalten und gleichzeitig die eigenen Prinzipien zu bekräftigen. Gemeinsame Bekenntnisse bleiben gültig!

A propos handlungsfähig: Russland ist Teilnehmerstaat der OSZE. Lähmt dies die Arbeit der Organisation – oder ist es im Gegenteil gerade hier eine Chance, dass die Konfliktparteien an einem Tisch sitzen?

Kurzfristig macht das unsere Arbeit erheblich schwieriger. Die OSZE trifft Entscheide im Konsens, angesichts der gegenwärtigen Konfrontation bedeutet dies, dass politische Erklärungen, aber auch wichtige personelle oder finanzielle Entscheide sehr schwierig geworden sind. Dennoch wurden Wege gefunden, um die Warschauer Menschenrechtskonferenz oder die Projektarbeit in der Ukraine trotz russischem Veto weiterführen zu können, finanziert durch freiwillige Beiträge zahlreicher OSZE-Staaten.

Mittelfristig ist es aber sehr wichtig, alle am Tisch zu haben: Sicherheit in Europa kann nur mit, nicht gegen Russland geschaffen werden. Der Dialog mit Russland bleibt unverzichtbar. Er muss aber auf Grundlage des Völkerrechts und der OSZE-Prinzipien erfolgen.

Welche Rolle kann die Schweiz in der OSZE spielen, um die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wieder zu stärken?

Erstens erinnern wir jede Woche im Ständigen Rat der OSZE die Staatengemeinschaft daran, dass das Völkerrecht und die OSZE-Bekenntnisse weiterhin gelten. Es ist wichtig, auch von Russland die Einhaltung seiner Verpflichtungen einzufordern.

Zweitens sorgen wir dafür, dass das Instrumentarium der OSZE erhalten und geschärft wird, damit es auch in Zukunft einsatzfähig bleibt.

Wie zum Beispiel?

Mit politischen Vorstössen, teils aber auch mit personellen und finanziellen Engagements unterstützen wir beispielsweise die Präsenz in der Ukraine, Missionen im Südkaukasus und in Zentralasien oder den Ausbau von Mediationskapazitäten. Es ist wichtig, dass die OSZE ihre Relevanz auch in der gegenwärtigen angespannten Lage unter Beweis stellen kann.

Wir wollen sicherstellen, dass Sicherheit in Europa auch in Zukunft nicht nur auf Abschreckung und Verteidigungsbündnissen, sondern auch auf Zusammenarbeit bauen kann.

Drittens hat die Planung für die Zeit nach Ende des Ukraine-Kriegs schon begonnen: Wir wollen sicherstellen, dass Sicherheit in Europa auch in Zukunft nicht nur auf Abschreckung und Verteidigungsbündnissen, sondern auch auf Zusammenarbeit bauen kann und die OSZE eine relevante Rolle in der europäischen Sicherheitsarchitektur spielt. In den laufenden informellen Gesprächen ist die Schweiz an vorderster Front dabei.

Der Krieg in der Ukraine ist nicht der einzige Konflikt, mit dem die OSZE konfrontiert ist. Wo ist die Organisation sonst noch stark engagiert?

Auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion schwelt eine Reihe regionaler Konflikte, zwischen Armenien und Aserbeidschan ebenso wie in Georgien und in Moldova. Durch Vermittlung der OSZE bestehen in allen drei Konflikten institutionalisierte Gesprächsformate, die zumindest dazu beitragen können, den Alltag für die Bevölkerung in der Konfliktregion erträglicher zu machen und das Risiko für gewaltsame Zusammenstösse zu verringern. Angesichts der geopolitischen Konfrontationen müssen wir bereits froh sein, wenn sich die Lage nicht verschlechtert. Der offene armenisch-aserbeidschanische Krieg 2020 hat gezeigt, wie fragil ein Waffenstillstand sein kann.

Die OSZE führt aber auch Feldmissionen im Westbalkan und in Zentralasien – diese leisten jeden Tag wichtige Konfliktprävention auf lokaler Ebene durch Stärkung der lokalen Verwaltung, Inklusion von Minderheiten, Arbeit mit der Zivilgesellschaft. In den Medien lesen wir davon nichts, ausser wenn es einmal nicht geklappt hat und es zu offenen Konfrontationen kommt, wie diese Tage in Nordkosovo. 

Angesichts der russischen Bedrohung ist ganz Europa enger zusammengerückt.

Anfang Dezember trifft sich im polnischen Łódź der Ministerrat, das zentrale Beschlussfassungs- und Leitungsorgan der OSZE. Was ist hier realistisch zu erwarten?

Beschlüsse, für welche ein Konsens erforderlich wäre, können wir nicht erwarten. Im Zentrum werden informelle Gespräche zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern stehen. Angesichts der russischen Bedrohung ist ganz Europa enger zusammengerückt. Ich erhoffe mir ein klares Einstehen und eine weitgehende Einigkeit für die Prinzipien der OSZE. Sie bleiben zentral für die Zukunft der Sicherheitsarchitektur in Europa.

Anfang Jahr hat die Schweiz ihren Aktionsplan OSZE 2022-2025 verabschiedet. Was hat sie hier bislang schon umsetzen können?

Der Aktionsplan sieht vor, die OSZE-Kapazitäten zu Konfliktmediation, Wahlbeobachtungen, Medienfreiheit zu stärken. In all diesen Bereichen wurden Schweizerische Expertinnen und Experten rekrutiert und entsandt. Die OSZE-Menschenrechtsarbeit unterstützen wir zudem durch eine Expertin zur Folterprävention. Im Bereich der Cybersicherheit konnten die Arbeiten an einem Konfliktbeilegungsinstrument bei schweren Cybervorfällen erfolgreich abgeschlossen werden. 

Der Aktionsplan sieht vor, die OSZE-Kapazitäten zu Konfliktmediation, Wahlbeobachtungen, Medienfreiheit zu stärken.

Bei der OSZE handelt es sich um die grösste regionale Sicherheitsorganisation. Arbeitet die OSZE-Delegation in Wien, die Sie leiten, 2023 und 2024 besonders eng mit der Schweizer Mission bei der UNO in New York zusammen, wenn die Schweiz dann dem UNO-Sicherheitsrat angehört?

Der Austausch ist bereits jetzt eng – wir telefonieren jede Woche für einen Abgleich der Agenda, koordiniert durch die UNO-Abteilung in Bern. Im Zentrum stehen Konfliktregionen, in denen UNO und OSZE-Institutionen engagiert sind, zurzeit also vor allem Ukraine, Georgien oder Afghanistan und seine zentralasiatischen Nachbarn. Natürlich versuchen wir alle Schwerpunkte des Schweizer Einsitzes im Sicherheitsrat auch aus Wien zu unterstützen, sei das Klimasicherheit, Frieden Frauen und Sicherheit oder den Besuch des OSZE-Vorsitzenden in New York.

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