«Eine Demokratie ist nie für immer und ewig gegeben»
An vielen Orten auf der Welt breiten sich autoritäre Tendenzen und Regimes aus, gleichzeitig geraten Demokratien von innen und aussen unter Druck. Der Bundesrat hat deshalb «Demokratie und Gouvernanz» als einen thematischen Schwerpunkt der Aussenpolitischen Strategie 2024-27 definiert. Auch am Gipfel für Demokratie geht es darum, wie demokratische Systeme wieder gestärkt werden können. Jungen Menschen komme hier eine besondere Bedeutung zu, sagt Botschafter Simon Geissbühler, der die Schweiz am Gipfel in Seoul vertritt.
«Demokratie für künftige Generationen» lautet das Thema des 3. Gipfels für Demokratie in Seoul. © Summit for Democracy
Herr Geissbühler, das Leitthema des Summit for Democracy lautet «Demokratie für künftige Generationen». Welche Themen stehen hier besonders im Vordergrund der Diskussionen?
Eine Demokratie ist nie für immer und ewig gegeben. In einer Demokratie geht es nicht nur harmonisch zu und her, im Gegenteil, die Vielfalt und der Wettstreit der Ideen und die Auseinandersetzung gehören zur Demokratie. Es ist entscheidend, dass die Jungen diese Weiterentwicklung und Stärkung der Demokratie mitgestalten.
Wichtige Themen sind hierbei zum Beispiel die Frage der Partizipation und die Rolle digitaler Technologien in der Demokratie. Gibt es neue Formen der Teilnahme am politischen Prozess, die jungen Menschen besser entsprechen? Was kann Junge motivieren, sich einzubringen und mitzuarbeiten in der Demokratie? Wie können wir unsere Gesellschaften und das bestehende Medien- und Informationsökosystem widerstandsfähiger machen? Die Anforderungen an unsere Medienkompetenz ändern sich rasch und nehmen zu. Wie gehen wir damit um? Dies sind einige der Fragen, die wir in Seoul diskutieren werden.
Derzeit spricht man eher von der demokratischen «Rezession». Woran zeigt sich diese?
Nach dem Ende des Kalten Krieges und der darauffolgenden Welle der Demokratisierung vor allem im früheren Ostblock glaubten viele, die Demokratie habe sich nun für immer und ewig durchgesetzt. Francis Fukuyama sprach entsprechend vom Ende der Geschichte. Demokratie erschien vielen als selbstverständlich, als gegeben. Es machte sich eine gewisse Selbstzufriedenheit breit. Warum sollte man da überhaupt die Demokratie fördern?
Doch dann begann sich das Blatt langsam zu wenden. Die Demokratien kamen von innen und aussen unter Druck, Autokratien traten zunehmend aggressiv auf. Ein bald 20-jähriger Trend der demokratischen Rezession setzte ein. Heute lebt eine deutliche Mehrheit der Weltbevölkerung in nicht-demokratischen Regimes.
Auf den wachsenden Druck auf demokratische Werte und Strukturen reagiert der Bundesrat in der Aussenpolitischen Strategie für die Jahr 2024 bis 2027: Er hat «Demokratie und Gouvernanz» als einen der vier thematischen Schwerpunkte definiert. Was kann die Schweiz hier bewirken?
Angesichts der demokratischen Rezession der letzten rund 20 Jahre erschien unser Verfassungsauftrag der Demokratieförderung in Art. 54 plötzlich in einem anderen Licht. Daher kam der Bundesrat in der APS24-27 zum Schluss, dass die Demokratieunterstützung nun «systematisch und kohärent angegangen werden muss».
Zuerst ging es darum zusammenzutragen, was die Schweiz in der Demokratieförderung überhaupt tut – und sie tut bereits recht viel, allerdings bisweilen aus guten Gründen nicht unter dem Begriff der Demokratieförderung. Jetzt sind wir daran, das Delta zu definieren: Was können wir besser und wirkungsvoller, anders und zusätzlich machen – im Wissen, dass wir angesichts schrumpfender Ressourcen nicht mehr finanzielle Mittel zur Verfügung haben werden.
Gibt es hier schon konkrete Stossrichtungen?
Ich gebe Ihnen vier Beispiele von möglichen Aktionsfeldern: Erstens können wir auf die Förderung der demokratischen Resilienz fokussieren, das heisst, auf die Unterstützung bestehender Demokratien, die unter Druck von aussen oder innen geraten. Nehmen wir zum Beispiel die Ukraine: Wie kann man ihr gerade jetzt – in einer Zeit von akutem Stress – helfen, Meinungsfreiheit, Partizipation und eine lebendige Zivilgesellschaft am Leben zu erhalten?
Zweitens sind die demokratischen Lichtblicke und Erfolgsgeschichten in den letzten zwei Jahrzehnten zwar rar geworden, aber es gibt sie. Wir möchten solche Staaten – wenn dies gewünscht und möglich ist – partnerschaftlich unterstützen bei der Konsolidierung der Demokratie.
Drittens werden wir den Dialog, die Vernetzung und die Zusammenarbeit mit anderen Demokratien stärken – sowohl inner- als auch ausserhalb von Europa.
Viertens überlegen wir uns, ob wir die Guten Dienste der Schweiz nicht punktuell auf die Demokratie ausdehnen könnten. Wir möchten Plattformen zur Verfügung stellen, wo sich relevante politische Akteure austauschen und absprechen, um Erfahrungen zu teilen oder Aktivitäten zu lancieren. Sie sehen, wir haben viele Ideen, die es nun zu konkretisieren gilt.
Und eines möchte ich noch ergänzen: Wir können nun nicht überall ein bisschen etwas machen, auch wenn es eine grosse Nachfrage gibt. Wir würden uns verzetteln. Wir werden strategisch vorgehen und Prioritäten setzen. Dafür schreiben wir jetzt im Auftrag des Departementschefs die EDA-Leitlinien Demokratie, die diesen Sommer publiziert werden sollen.
Welche Instrumente kann der Bund hier einsetzen?
Wir können Netzwerke, Dialoge und politische Initiativen initiieren und so den diplomatischen Werkzeugkasten mehr und systematischer für die Demokratieaussenpolitik einsetzen. Wir können mit anderen Staaten und mit Partnern aus der Zivilgesellschaft oder aus dem Privatsektor zusammenarbeiten, um unsere strategischen Vorgaben möglichst effizient und kohärent umzusetzen.
Die Schweiz verfügt mit ihrem direktdemokratischen System über viel Erfahrung mit Partizipation der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen und Einbezug von Minderheiten. Hilft das Ihnen bei der multilateralen Zusammenarbeit – oder erschwert es die Mitgestaltung bei der Suche nach allgemeinen Mindeststandards?
Tatsächlich gaben in einer repräsentativen Umfrage 2021 80 Prozent der Befragten an, dass die Schweiz aufgrund ihrer demokratischen Tradition prädestiniert sei, die Demokratie weltweit zu fördern. Das hängt damit zusammen, dass wir mit unserer direkten Demokratie, auf die wir durchaus stolz sein dürfen, gute Erfahrungen gemacht haben. Bei der Demokratie verschränken sich Innen- und Aussenpolitik. Nun geht es natürlich nicht darum, mit dem Schweizer Demokratiemodell im Ausland zu hausieren. Aber unser Modell ist eine Inspiration für andere, gibt uns eine hohe Glaubwürdigkeit und erlaubt es uns, partnerschaftlich mit anderen Staaten über die Demokratie in ihrer ganzen Vielfalt zu sprechen und zusammenzuarbeiten.
Nun besteht durchaus ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen der Demokratie und dem Mehrheitsprinzip und dem Minderheitenschutz. Dieses wird eingedämmt durch ein Demokratiemodell, das den Willen der Mehrheit zwar ins Zentrum stellt, diesen aber durch eine Verfassung einschränkt, welche individuelle Freiheiten und Rechte gewährt.
Die Abteilung Frieden und Menschenrechte des EDA hat seit Januar 2024 ein neue Sektion Demokratie eingerichtet. Welche Ziele verfolgen Sie mit dieser neuen Struktur?
Wie heisst es so schön: Die Struktur folgt der Strategie. Seit ich im Frühling 2020 meine Stelle als Chef AFM angetreten habe, habe ich kontinuierlich an der Demokratiethematik gearbeitet. Ich habe im Sommer 2020 ein erstes Inputpapier für das Staatsekretariat verfasst und war dann der Verantwortliche für den Demokratiegipfelprozess. 2021 führten wir mehrere Online-Diskussionen mit weltweit renommierten Expertinnen und Experten durch. 2022 organisierten wir die erste Giessbach-Retraite mit Kolleginnen und Kollegen von mir, die in anderen Aussenministerien zu Demokratie und Demokratieförderung arbeiten. 2023 fand die zweite Giessbach-Retraite statt, und wir publizierten den Sammelband «Democracy and Democracy Promotion in a Fractured World» (LIT Verlag). 2022 und 2023 hatten wir je ein Panel zum Thema an der Botschafterkonferenz des EDA.
Nun ist die Demokratie auch als ein Schwerpunkt in der Aussenpolitischen Strategie 2024-27 verankert. Vor diesem Hintergrund war mir früh klar, dass wir eine Struktur in der AFM brauchten, um das Thema zu bearbeiten und den Erwartungen an uns gerecht zu werden. Seit dem 1. Januar 2024 funktioniert nun die Sektion Demokratie in der AFM unter der Leitung von Ariadna Pop. Ich bin stolz, dass wir das zeitgerecht hingekriegt haben. Jetzt können wir durchstarten.
Welche Elemente sind aus Ihrer Sicht entscheidend, damit aus der demokratischen «Rezession» wieder eine demokratische Stabilität werden kann?
Zuerst sollten wir die eigene Selbstgefälligkeit ablegen und aufhören, die Demokratie schlecht zu machen – wenn doch empirische Studien klar die Leistungsfähigkeit und Vorteile der Demokratie belegen. Diese Leistungsfähigkeit und diese Vorteile müssen wir vermehrt betonen und besser kommunizieren. Weltweit werden wir beneidet ob unserer einmaligen Partizipations- und Mitbestimmungsmöglichkeiten. Nehmen wir diese wieder mehr wahr. Demokratie könnte auch – wie es letzthin ein französischer Philosoph – Spass machen und eine Party sein.
Dann sollten wir auch eine gewisse Naivität ablegen. Demokratie ist auch von aussen unter Druck. Diesen Gefahren sollten wir selbstbewusst begegnen.