«Die Töne können zwar ändern, aber die Musik bleibt dieselbe.»
Bundesrat Ignazio Cassis spricht im Interview mit der NZZ über die anstehenden Verhandlungen mit der EU, über die Bedeutung eines institutionellen Rahmenabkommens für die Schweizer Wirtschaft, sowie über die Wahl von Livia Leu zur neuen Staatssekretärin.
Bundesrat Ignazio Cassis spricht im Interview mit der NZZ über die anstehenden Verhandlungen mit der EU und das institutionelle Rahmenabkommen. © EDA
Nachdem sich das Schweizer Stimmvolk am 25. September 2020 deutlich hinter ein geregeltes Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) gestellt hat, geht es in den kommenden Wochen darum auszuarbeiten, wie diese Beziehung ausgestaltet werden soll. Ein institutionelles Abkommen zwischen der Schweiz und der EU soll den gegenseitigen Marktzugang konsolidieren und zukunftsfähig machen. «Nach einer breiten Konsultation hat der Bundesrat der EU im Juni 2019 in einem Brief mitgeteilt, wo er Verbesserungen wünscht. Wir werden in den kommenden Wochen der EU dazu konkrete Vorschläge machen», erklärt Ignazio Cassis im Rahmen eines Interviews mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).
Baden-Württemberg und Bayern wichtiger als China
Für den Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ist ein geregeltes Verhältnis mit der EU, insbesondere mit den Nachbarländern, für die Schweiz von grosser Bedeutung. «Es sichert unseren Wohlstand. Jeder zweite Franken im Portemonnaie verdienen wir dank der Exportwirtschaft. Und davon 60 Prozent im Austausch mit der EU. Wenn wir weiterhin den erleichterten Zugang zum europäischen Binnenmarkt wollen, müssen wir uns mit der EU über das Rahmenabkommen einigen», betont Bundesrat Cassis.
Würde die Schweiz einen solchen Vertrag ablehnen, müsste sich die Schweizer Wirtschaft mit grösster Wahrscheinlichkeit neu orientieren und andere Absatzmärkte suche. «Dabei gilt zu beachten, dass der Handelsaustausch mit Baden-Württemberg und Bayern mit Abstand grösser ist als jener mit China.»
Handelsbeziehungen vergleichbar mit dem Smartphone
Im Gespräch mit der NZZ vergleicht Bundesrat Cassis die geltenden Verträge zwischen der Schweiz und den Staaten der europäischen Union mit Apps auf dem Smartphone. Nur, wer regelmässig Apps und Software aktualisiert, kann die Vorzüge der Applikationen nutzen. Gleiches gilt für die Beziehung Schweiz-EU – ohne Rahmenabkommen werden die geltenden Bilateralen Verträge erodiert.
«Wie eine App auf dem Smartphone verlieren die Verträge ohne regelmässige Aktualisierungen an Funktionalität. Neue EU-Normen werden nicht mehr übernommen. Jetzt passiert die Übernahme im autonomen Nachvollzug. Die EU hat sich damit arrangiert. Dies wird aber künftig nicht mehr so einfach möglich sein», erklärt der Departementsvorsteher. «Ohne Rahmenabkommen wird der Handel mit der EU abnehmen. Wir werden weniger attraktiv für Investoren. Längerfristig hat das einen Einfluss auf unsere Arbeitsplätze und unser Wohlstand wird schrumpfen.»
Erfahrene und ruhige Persönlichkeit mit Verhandlungsgeschickt
Um das dringend notwendige Update in der Beziehung Schweiz-EU anzugehen, hat des Bundesrat an seiner Sitzung vom 14. Oktober 2020 eine neue Staatssekretärin ernannt. Livia Leu, bis anhin Botschafterin in Paris, übernimmt per sofort die Direktion für europäische Angelegenheiten (DEA) und wird damit Chefunterhändlerin für die Verhandlungen mit der EU.
«Ihre reiche und breite Erfahrung», habe den Ausschlag gegeben, erklärt Bundesrat Cassis seine Wahl. «Zudem war sie als Botschafterin in Paris in den vergangenen zwei Jahren sehr nahe an der EU-Politik. Sie hat in verschiedenen Situationen grosses Verhandlungsgeschick gezeigt, zum Beispiel in Teheran. Wir hoffen, dass ihr dies nun auch in den Gesprächen mit Brüssel helfen wird.»
Livia Leu sei eine solide, erfahrene und ruhige Persönlichkeit mit viel Verhandlungsgeschickt. Und das wird die neue Staatssekretärin brauchen, stehen nun die Diskussionen mit der EU über die drei umstrittenen Punkte Staatsbeihilfe, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinien an. Die offizielle Position der Schweiz wird der Bundesrat in den nächsten Wochen festlegen. «Das Verhandlungsmandat hat sich nicht verändert. Die Töne können zwar ändern, aber die Musik bleibt dieselbe», betont Bundesrat Cassis.