«Aussenpolitik ist Interessenpolitik; auch unter Freunden»

Im Gespräch mit dem Schweizer Fernsehen beschreibt Bundesrat Ignazio Cassis die besondere Beziehung der Schweiz zu Europa und sagt, wieso ihn die steigenden COVID-19-Zahlen noch nicht aus der Ruhe bringen. In der Talk-Sendung «Gredig direkt» des Schweizer Radio und Fernsehen erklärt der Vorsteher der Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), weshalb er das Wörtchen suboptimal so mag und wieso gerade dieses stellvertretend für die kulturelle Vielfalt der Schweiz steht.

21.08.2020
Fotomontage mit Ignazio Cassis, der in die Kamera schaut, und zwei Sprechblas-Icons mit Fragezeichen und Antwort zur Darstellung eines Interviews.

Im Gespräch mit SRF beschreibt Bundesrat Ignazio Cassis die Beziehung der Schweiz zu Europa und sagt, wieso ihn die COVID-19-Zahlen noch nicht aus der Ruhe bringen. © EDA

Es dauert noch knapp einen Monat bis zur Volksabstimmung zur Begrenzungsinitiative. Ein wichtiger Moment in der Ausgestaltung der zukünftigen Beziehung zwischen der Schweiz und der EU. Eine Beziehung unter Freunden, wenn auch eine mit individuellen Interessen. «Freunde sind wichtig im Leben. Aber wir dürfen nicht allzu romantisch sein. Aussenpolitik ist Interessenpolitik; auch unter Freunden. Wir finden einen Weg, wenn es im Interesse beider Seiten ist», betont Bundesrat Ignazio Cassis.

Wir sind, wer wir sind, und wir stehen, wo wir stehen, auf Grund unserer 700 Jahren alten Geschichte und das muss man zur Kenntnis nehmen. Das ist unsere Identität.

Eine Lösungsfindung bedarf der Kompromissbereitschaft und des Verständnisses dafür, dass wir alle sind, wie wir sind, weil wir geprägt sind von unserer Kultur. «Flexibilität und Verständnis für unsere Geschichte und unsere heutige Situation sind entscheidend. Wenn man die Geschichte der Schweiz nicht anerkennen will, dann werden wir nie einen Weg finden. Wir sind, wer wir sind, und wir stehen, wo wir stehen, auf Grund unserer 700 Jahren alten Geschichte und das muss man zur Kenntnis nehmen. Das ist unsere Identität.»

Suboptimal gut

Teil dieser Schweizer Identität ist ihre kulturelle und sprachliche Vielfalt. Als Tessiner Bundesrat kennt Ignazio Cassis auch die andere Seite – die des Aussenseiters. «Ich bin der einzige Tessiner im Bundesrat, da bin ich kulturell gesehen a priori alleine. Die Tatsache, dass sie eine Landessprache perfekt beherrschen, wird kaum zu Kenntnis genommen, weil funktionell ist sie nicht wichtig.» Als sprachgewandter Bundesrat unterhält sich Ignazio Cassis mit seinen Kolleginnen und Kollegen auf Deutsch oder Französisch. «Das sind Gleichgewichte, die mit Machtverhältnissen zu tun habe. Die Deutschschweizer sind nun einmal in der Machtposition. Sie hegen zwar viele Sympathien und Zuneigung für andere Sprachregionen, aber eine Kultur zu verinnerlichen braucht mehr.»

Es sind kleine Unterschiede, welche die verschiedenen Regionen der Schweiz ausmachen. Und für Ignazio Cassis gehen diese weit über die Sprache hinaus, es sind kulturelle Unterschiede, die unser Land prägen. Es ist die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, wie wir unser Verhältnis zu Behörden und Politiker verstehen, oder aber auch, wie wir uns ausdrucken. «Ich liebe es, wenn die Deutschschweizer sagen, etwas sei suboptimal. Damit meinen sie, dass etwas schlecht gelaufen ist, schlechter wäre kaum möglich. Man nennt es aber nicht schlecht, sondern suboptimal. Auf Französisch und Italienisch bedeutet suboptimal, dass es fast perfekt ist. Das sind diese kulturellen Nuancen, die mir Freude verursachen in der kulturellen Vielfalt unserer Schweiz.»

Verhalten optimistisch

Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen erleben wir auch bei der COVID-19-Bekämpfung. Seit einigen Tagen steigen die Fallzahlen, die Massnahmen sind von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Für Ignazio Cassis kein schlechtes Zeichen. «Unterschiedliche Regeln in unterschiedlichen Kantonen ist nicht per se etwas Schlechtes, weil die Epidemie nicht überall gleich ist.» Bei der Umsetzung von Massnahmen sei es wichtig, dass man die kulturellen Unterschiede zwischen der deutschsprachigen, der französischsprachigen und der italienischsprachigen Schweiz miteinbezieht. «Wir haben unterschiedliche Verhaltensweisen und ein unterschiedliches Verständnis der Beziehung zwischen Bürgern und Staat. Die Kantone kennen das und genau deshalb spielen die Kantone in der föderalistischen Schweiz eine wichtige Rolle.»

Wir diskutieren bis wir eine Lösung gefunden haben. Das ist die Schweiz.

Besorgt, dass die Fallzahlen bei COVID-19 steigen, ist Bundesrat Cassis nicht, sagt aber, dass man die Situation eng verfolgt. «Die Anzahl neuinfizierter Menschen ist nur ein Indikator. Zwei andere wichtige Indikatoren sind die Belegung der Betten auf Intensivstationen sowie die Todesfälle und beide Indikatoren sind beinahe gleich null. Das heisst, wir haben es aktuell mit einer Ausbreitung des Virus bei jüngeren Bevölkerungsgruppen zu tun, die weniger Symptome entwickeln. Trotzdem ist es natürlich eine Sorge. Wir dürfen es aber auch nicht dramatisieren und müssen die verschiedenen Massnahmen konsequent umsetzen.»

Ehrlich kritisch

Im Gespräch ging es auch um aktuelle internationale Entwicklungen. Die Situation rund um die Wahlen in Belarus verfolge die Schweiz genau. Erst im Februar 2020 hat die Schweiz ihre Botschaft in Minsk eröffnet. «Damit haben wir den positiven Kurs unterstützen wollen.» Die Wahlen seien daran gemessen ein Rückschritt, was Bundesrat Cassis dem belarussischen Aussenminister auch im Rahmen eines telefonischen Austausches mitgeteilt hat: «Ich habe ihm klar gesagt, dass die aktuelle Entwicklung für uns eine Enttäuschung ist.»

Wir wollen weiterhin mit China eine konstruktive Beziehung haben. Aber wir müssen im direkten Dialog auch gewisse Dinge offen ansprechen.

Angesprochen auf kritische Äusserungen des EDA-Vorstehers zu Menschenrechtsaspekten in China unterstrich Bundesrat Cassis, dass die Schweiz früher schon, etwa zur Menschenrechtssituation der Uiguren oder zur Situation in Hongkong, deutlich Stellung bezogen hat. Die engen Kontakte zwischen der Schweiz und China machen dies möglich: «Wir wollen weiterhin mit China eine konstruktive Beziehung haben. Aber wir müssen im direkten Dialog auch gewisse Dinge offen ansprechen», betont Bundesrat Cassis, der mit seinem chinesischen Amtskollegen auch vereinbart hat, in diesem Jahr den Menschenrechtsdialog zwischen beiden Ländern weiterführen zu wollen.

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