«Ohne Trägersysteme können Massenvernichtungswaffen nicht eingesetzt werden»

Um die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern, muss auch bei den Trägersystemen angesetzt werden. Das Raketentechnologie-Kontrollregime (MTCR) mit seinen 35 Mitgliedstaaten entwickelt Richtlinien, um den Export der Trägersysteme und Technologien etwa für ballistische Raketen, Marschflugkörper oder Drohnen kontrollieren zu können. Das sei für die Schweiz sicherheitspolitisch und auch wirtschaftlich von Bedeutung, sagt Benno Laggner. Der Schweizer Diplomat führt für ein Jahr den Vorsitz des MTCR.

Das Bild zeigt einen Teil eines Trägersystems für Raketen. Zu sehen ist ein Metallbehälter und spitzer Abdeckung.

Richtlinien für den Export von Trägersystemen und Technologien sollen dazu beitragen, dass die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen verhindert werden kann. zVg

Herr Botschafter, die Schweiz übernimmt am 19.10.2022 für ein Jahr den Vorsitz des Raketentechnologie-Kontrollregimes (MTCR). Wie lässt sich das MTCR in kurzen Worten beschreiben?

Das MTCR ist eine politische Vereinbarung einer informellen Gruppe von heute 35 Ländern. Es handelt sich nicht um eine internationale Organisation oder einen völkerrechtlichen Vertrag. Ziel des Kontrollregimes ist, die Weiterverbreitung (Proliferation) von Raketensystemen und Raketentechnologie für Massenvernichtungswaffen zu verhindern. Um das zu erreichen, nutzt das MTCR Exportkontrollen, den Informationsaustausch unter den Regime-Mitgliedern und den Austausch (Outreach) mit wichtigen Drittstaaten.

Porträt von Botschafter Benno Laggner.
Botschafter Benno Laggner ist Gouverneur und Ständiger Vertreter der Schweiz bei der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) und bei der Organisation des Vertrages über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen CTBTO. In Wien leitet er ausserdem den Bereich Nuklearfragen bei der Ständigen Vertretung der Schweiz bei der OSZE, den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen. © EDA

Die Schweiz ist einer der Mitgliedstaaten des MTCR. Welche Prioritäten verfolgt sie dabei?

Zum einen verfolgt die Schweiz sicherheitspolitische Interessen, insbesondere die Verhinderung der Proliferation. Zum zweiten hat die Schweiz durch ihre Mitgliedschaft die Möglichkeit, sich an der Ausarbeitung gemeinsamer Exportkontrollregeln in diesem Bereich zu beteiligen. Diese Regeln gelten für alle Partnerländer im Regime und schaffen somit ein «level playing field». Das heisst konkret: Schweizer Unternehmen, welche entsprechende Güter und Technologien exportieren, sind den gleichen Regeln unterworfen wie ihre Mitbewerber in den anderen Partnerländern. Da in den Partnerländern viele weitere Unternehmen vertreten sind, die hochwertige Güter und Technologie liefern, ist dies wirtschaftlich für die Schweiz relevant.

Das Raketentechnologie-Kontrollregime

Das Raketentechnologie-Kontrollregime (Missile Technology Control Regime, MTCR) wurde 1987 von den G7-Staaten ins Leben gerufen. Die Schweiz wurde 1992 Mitglied des MTCR. Ursprünglich ging es um die Verhinderung der Proliferation von Trägersystemen für Nuklearwaffen. 1992 wurde der Geltungsbereich auf Trägersysteme für alle Massenvernichtungswaffen (Nuklear- biologische und Chemiewaffen) ausgedehnt. Erfasst sind Raketensysteme (ballistische Raketen, aber auch Weltraum-Trägersysteme und Höhenforschungsraketen) sowie unbemannte Luftfahrzeuge (UAVs) wie Drohnen oder Marschflugkörper. Kontrolliert werden nicht nur die ganzen Systeme, sondern auch die entsprechenden Bestandteile, Software und Technologie zu deren Herstellung.

«Kontrollregime» bedeutet, dass sich die Mitglieder auf gemeinsame Richtlinien (Guidelines) für den Export von Trägersystemen und Trägertechnologie einigen. Sie einigen sich auch auf eine Liste von Gütern und Technologien, deren Export nur nach einer Kontrolle erfolgen kann. Diese Liste wird laufend überprüft und angepasst, um u.a. technologische Entwicklungen zu berücksichtigen.  Alle Entscheide im MTCR werden im Konsens gefällt. Die Umsetzung erfolgt dann jeweils national. Das heisst, wenn ein Unternehmen in der Schweiz solche Güter oder Technologie exportieren möchte, muss die nationale Exportkontrollbehörde, das SCEO, prüfen, ob dieser Export im Einklang mit den Richtlinien ist.

Für unseren zweiten Vorsitz nach dem ersten im Jahr 1993 haben wir drei Prioritäten festgelegt: Erstens wollen wir das MTCR und seine Institutionen bewahren und stärken. Zweitens wollen wir die Sichtbarkeit des MTCR nach aussen und damit dessen Relevanz erhöhen. Dazu gehört besonders der Austausch mit wichtigen Drittstaaten. Nicht alle Raketentechnologie-Exporteure sind im MTCR vertreten. Zudem läuft der internationale Handel auch über Transitstaaten. Es ist wichtig, auch mit diesen Staaten zu sprechen und sie dafür zu gewinnen, die Proliferation einzudämmen, damit keine Kontrolllücken entstehen. Und drittens wollen wir die Bedeutung der technischen Dimension des Regimes hervorheben. Wir möchten, dass die technischen Experten nach der Plenarwoche in Montreux ein weiteres Treffen abhalten können, und diese noch besser in unsere Outreach-Aktivitäten einbeziehen.

Grafik mit Zahlen und Bildern, die Informationen über das Raketentechnologie-Kontrollsystem, seine Aufgaben und Instrumente liefern.
Visuelle Darstellung des Raketentechnologie-Kontrollsystems, seiner Aufgaben und Instrumente. © EDA

Im Januar 2022 hat der Bundesrat die Strategie Rüstungskontrolle und Abrüstung 2022-2025 verabschiedet. Welche «Rolle» spielt hier das MTCR?

Nuklearwaffen sowie chemische und biologische Waffen werden in der Strategie als zwei der fünf Aktionsfelder identifiziert. Um die Proliferation von Massenvernichtungswaffen zu verhindern, muss auch bei den Trägersystemen angesetzt werden. Ohne Trägersysteme können Massenvernichtungswaffen nicht eingesetzt werden! Deshalb definiert die Strategie als eines der Ziele die Stärkung und Weiterentwicklung der Transparenz- und Gouvernanzinstrumente im Bereich der Trägersysteme. Mit dem MTCR-Vorsitz können wir einen konkreten Beitrag dazu leisten. Ich würde den Bogen aber noch weiter spannen. Auch der UNO-Sicherheitsrat befasst sich mit Nonproliferation. Vor dem Hintergrund unserer baldigen Mitgliedschaft können wir mit dem MTCR-Vorsitz zeigen, dass wir gewillt sind, in diesem Bereich Verantwortung auf internationaler Ebene zu übernehmen.

Das MTCR kann die Beschaffung von Trägersystemen und Trägertechnologie für Massenvernichtungswaffen erheblich erschweren bzw. bedeutend kostspieliger machen.

Was wäre das «Idealziel», das das MTCR anstrebt?

Idealerweise würde das MTCR jegliche Weiterverbreitung von Trägersystemen und Trägertechnologie für Massenvernichtungswaffen vollständig verhindern. Das ist aber nicht realistisch. Denn zum einen sind nicht alle Länder, die über entsprechende Systeme und Technologien verfügen, Mitglieder des MTCR und somit an dessen Regeln gebunden. Zum anderen sind Länder, die solche Systeme und Technologien erwerben wollen, sehr erfinderisch in ihren Beschaffungsstrategien. Was das MTCR aber kann, ist die Beschaffung erheblich erschweren bzw. bedeutend kostspieliger machen.

Welche Aufgaben sind für die Schweiz mit dem Vorsitz verbunden?

Die Schweiz ist zunächst verantwortlich für die Durchführung der jährlichen Plenarwoche, die derzeit in Montreux stattfindet. Die Plenarwoche umfasst Treffen von Expertengruppen, bei denen sich technische Expertinnen und Experten und solche für Exportbewilligungen und Proliferationsfragen austauschen, sowie eine Plenarversammlung. Dort werden politische Fragen diskutiert. Die Plenarversammlung ist das oberste Beschlussgremium des MTCR.

Als Vorsitzland trägt die Schweiz zudem für ein Jahr die Verantwortung für das Funktionieren des Regimes und vertritt es nach aussen. Wir müssen zum Beispiel dafür besorgt sein, dass wir eine Nachfolge für unseren Vorsitz finden und dass auch die entsprechenden Positionen in den Arbeitsgruppen besetzt sind, um die Handlungsfähigkeit des MTCR zu wahren. Eine andere wichtige Aufgabe sind die Kontakte zu relevanten Drittstaaten.

Wann sind Drittstaaten «relevant»?

«Relevant» sind Staaten, die einen Antrag auf Mitgliedschaft im MTCR gestellt haben oder die sich einseitig zur Übernahme der Richtlinien und Kontrollliste verpflichtet haben. Relevante Drittstaaten sind aber auch wichtige Produzenten und Lieferländer von Trägersystemen und entsprechender Technologie ausserhalb des Regimes sowie Transitländer für Exporte. Wir planen bilaterale Outreach-Reisen zu neun Ländern. 

Der Vorwurf, Exportkontrollregimes würden den Handel ungerechtfertigt beschränken, ist falsch: Mit den Richtlinien und der Kontrollliste schafft das Raketentechnologie-Kontrollregime einen Rahmen für legitimen Handel.

Den Exportkontrollregimes wird oft vorgeworfen, sie wären für ungerechtfertigte Handelsbeschränkungen verantwortlich…

…ja der Vorwurf wird immer wieder erhoben – aber er trifft nicht zu! Im MTCR nehmen die Mitglieder eine sorgfältige Abwägung vor, um eine Balance zu finden zwischen sicherheitspolitischen Interessen – der Eindämmung von Proliferationsrisiken - und wirtschaftlichen Interessen, also dem Handel. Mit den Richtlinien und der Kontrollliste schafft das Regime einen Rahmen für legitimen Handel. Es gehört deshalb auch zu den Aufgaben des Vorsitzes, das MTCR an gewissen multilateralen Anlässen wie z.B. am jährlichen Exportkontrollseminar für asiatische Länder in Tokio zu vertreten. Die Teilnahme an Konferenzen ist wichtig, um über das Regime und dessen Aktivitäten zu informieren.

Das MTCR ist in einer schwierigen Phase: Nicht nur hat die Covid-Pandemie die Aktivitäten gelähmt. Auch hatte zuletzt Russland den Vorsitz des Kontrollregimes inne. Wie würden Sie den aktuellen Zustand des MTCR beschreiben?

Alle multilateralen Foren leiden unter der angespannten internationalen Lage. Es ist aber wichtig, die Expertenebene und die politische Ebene auseinander zu halten. Unsere Hoffnung ist, dass in den Arbeitsgruppen auf Expertenebene konstruktive Diskussionen und Arbeit möglich bleiben. Alle Partner haben uns gegenüber erwähnt, dass sie das MTCR bewahren wollen und dass die technische Arbeit wichtig ist. Zudem ist es auch wichtig, sich vor Augen zu führen, dass das MTCR ein beschränktes Mandat hat.

Ganz ausblenden lässt sich die politische Grosswetterlage aber nicht. Deshalb wird es bei den politischen Diskussionen in der Plenarversammlung schwierig werden. Eine der anspruchsvollen Aufgaben ist jeweils die Einigung auf ein öffentliches Statement, in dem die Diskussionen widergespiegelt werden und das auf der MTCR-Webseite veröffentlicht wird. Unter den gegenwärtigen Umständen wird dies eine noch grössere Herausforderung werden.

Meine Priorität ist es zunächst, das MTCR-Schiff an der Plenarversammlung einigermassen unbeschadet durch den Sturm zu steuern.

Wo sehen Sie in diesem Kontext Ihre Prioritäten als MTCR-Vorsitzender? Bei der Umsetzung der Kontrolle – oder erst einmal bei der Vertrauensbildung?

Für die Umsetzung der Kontrollen sind die nationalen Exportkontrollbehörden, in der Schweiz das SECO, zuständig. Damit hat der Vorsitz nichts zu tun. Meine Priorität ist es zunächst, das MTCR-Schiff an der Plenarversammlung einigermassen unbeschadet durch den Sturm zu steuern. Das wird aber nur gelingen, wenn alle nach ihren Eingangsvoten, die scharf ausfallen dürften, dann gemeinsame Interessen in den Vordergrund stellen. Ich habe im Vorfeld mit nahezu allen teilnehmenden Partnerländern bilaterale Konsultationen geführt, unsere Prioritäten dargelegt und - bei allem Verständnis für divergierende politische Positionen - an das gemeinsame Interesse appelliert. Zudem müssen wir uns auf das Mandat des MTCR beschränken. Die weiteren Prioritäten sind, eine Nachfolge für unseren Vorsitz zu finden, Aktivitäten auch in der Zwischenphase bis zur Plenarversammlung im nächsten Jahr, und die Outreach-Kontakte zu Drittstaaten.

Was hätte es für Folgen, wenn das MTCR nicht mehr funktionsfähig wäre?

Trägersysteme sind nicht verboten und es gibt in diesem Bereich keine rechtlich verbindlichen multilateralen Verträge, anders als bei den Massenvernichtungswaffen. Das MTCR ist daher das internationale Hauptinstrument für die Verhinderung der Proliferation von Trägersystemen und Trägertechnologie. Das MTCR hat zwar nur eine beschränkte Mitgliedschaft. Die Richtlinien und die Kontrollliste werden aber von zahlreichen Ländern als Referenzstandard übernommen. Alle Staaten sind nämlich aufgrund der UNO-Sicherheitsratsresolution 1540 verpflichtet, effektive nationale Exportkontrollen auch für Trägersysteme zu errichten. Würde das MTCR wegfallen, würde eine grosse Lücke entstehen.

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass es im Raketenbereich ein weiteres politisch verbindliches multilaterales Instrument gibt, das komplementär zum MTCR ist und ursprünglich in dessen Rahmen entwickelt wurde: den Haager Verhaltenskodex gegen die Proliferation von ballistischen Raketen. Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich zur grösstmöglichen Zurückhaltung in der Entwicklung von ballistischen Lenkwaffen. Der Kodex beinhaltet auch Massnahmen für einen verantwortungsvollen Umgang mit ballistischen Raketen, u.a. verschiedene Transparenzmassnahmen. 143 Staaten haben den Kodex unterzeichnet. Die Schweiz hat 2020/2021 den Vorsitz des Kodex ausgeübt. 

Ein Vorteil für unseren MTCR-Vorsitz ist, dass die Schweiz immer ein konstruktiver und pragmatischer Partner im Regime gewesen ist. Unsere Expertise und Engagement gerade auch auf technischer Ebene sind anerkannt.

Die Schweiz ist kein ganz grosser Player im Rüstungsbereich. Ist das ein Vorteil oder ein Nachteil für den MTCR-Vorsitz?

Als Industriestandort beherbergt die Schweiz Unternehmen, die modernste Technologien oder Bestandteile herstellen, die auch für Raketensysteme verwendet werden können. Somit sind wir ein wichtiger Akteur im MTCR. Ein Vorteil für den Vorsitz ergibt sich daraus aber nicht.

Ein Vorteil für unseren MTCR-Vorsitz ist vielmehr, dass die Schweiz immer ein konstruktiver und pragmatischer Partner im Regime gewesen ist. Unsere Expertise und Engagement gerade auch auf technischer Ebene sind anerkannt. Eine Kollegin des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO, Seraina Frost, ist aktuell seit zwei Jahren Co-Vorsitzende der technischen Expertengruppe. Die Schweiz hat auch öfters technische Expertentreffen organisiert. Mein persönlicher Vorteil ist, dass ich auf meine vergangene Erfahrung  als Vorsitzender der Gruppe der Nuklearlieferländer NSG und des Haager Verhaltenskodex zurückgreifen kann.

Wenn die Schweiz in einem Jahr den Vorsitz weitergibt: Was möchten Sie persönlich bis dann erreicht haben?

Ich hoffe, dass trotz aller politischen Differenzen das gemeinsame Interesse an einem funktionierenden MTCR überwiegt und dass die Handlungsfähigkeit gewährleistet ist – also der nächste MTCR-Vorsitz und die Vorsitze der Expertengruppen bestimmt sind. Weiter hoffe ich, dass wir wieder zu einem normalen Arbeitsrhythmus zurückfinden. Und schliesslich, dass wir unseren Outreach wie geplant durchführen können, um die Sichtbarkeit des MTCR und dessen Relevanz generell zu stärken.

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