Zweite Halbzeit der Agenda 2030: «Wir müssen die Umsetzung beschleunigen»
Die Zeit für die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ist zur Hälfte vorbei. Wo steht die Welt in der Umsetzung der 17 Ziele, die sie sich vor 8 Jahren gesetzt hat? Diese Frage steht im Zentrum des diesjährigen High Level Political Forum on Sustainable Development (HLPF), welches an der UNO in New York stattfindet. Markus Reubi, Delegierter des Bundesrats für die Agenda 2030, sowie Christian Frutiger, Chef der Abteilung Thematische Zusammenarbeit in der DEZA, erklären, was das für die Schweiz bedeutet.
Die Schweizer Delegation am High Level Political Forum 2023 in New York sagt es: Die Agenda 2030 zeigt den Weg auf in eine nachhaltigere, resilientere und inklusivere Zukunft. © DEZA
Bei den Zielen der Agenda 2030 ist Halbzeit. Welche Bilanz können wir ziehen? Wo steht die Welt in der Umsetzung der Agenda 2030?
Markus Reubi (MR): Leider fällt die Bilanz nicht gut aus. Nach anfänglich grossem Elan sind heute nur etwa 12 Prozent der 169 Unterziele auf Kurs. Über die Hälfte gehen zwar in die richtige Richtung, bewegen sich jedoch zu langsam. Ein weiteres Drittel der Ziele hat gar keine Fortschritte gemacht. Teilweise wurden sogar Rückschritte gegenüber 2015 verzeichnet. So steht es im SDG Progress Report 2023, den die UNO gerade publiziert hat.
Christian Frutiger (CF): Die Situation ist wirklich besorgniserregend. Besonders wenn man an die Millionen Menschen denkt, die hinter diesen Zahlen stecken. Nehmen wir eines der Ziele zu Armut: Gehen die Trends so weiter, werden 2030 immer noch 570 Millionen Menschen in extremer Armut leben.
Das ist nicht das, was man sich nach der Hälfte der Zeit erhofft. Wie geht man nun mit einem so ernüchternden Fazit um?
CF: Wir müssen die Thematik ernst nehmen und dürfen uns gleichzeitig nicht entmutigen lassen. Genau jetzt, in der zweiten Halbzeit, müssen wir die Umsetzung der Agenda 2030 beschleunigen. Eine erste Gelegenheit ein Signal zu senden, bietet der SDG Summit der UNO im September. Hier werden sich die Staatschefinnen und -chefs zur Agenda 2030 austauschen. Der Generalsekretär der UNO trifft es in seinem Bericht sehr gut: «The SDG Summit, in September, must signal a genuine turning point. It must mobilize the political commitment and breakthroughs our world desperately needs.»
MR: Ebenso dürfen wir nicht vergessen, dass die Agenda 2030 uns alle etwas angeht. Sie zeigt den Weg auf in eine nachhaltigere, resilientere und inklusivere Zukunft. Die Schweiz ist bereit, sich mit Überzeugung für die Erreichung der Ziele einzusetzen. Doch sie kann dies nicht alleine. Es braucht alle, um weiterzukommen: die Staaten, die Städte und Gemeinden, die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft und die Wissenschaft. Wir alle können unseren Möglichkeiten entsprechend einen Beitrag leisten. Insbesondere in der stärkeren Mobilisierung des Privatsektors und dessen Ausrichtung auf die Nachhaltigkeitsziele sehen wir viele Fortschritte, aber auch nach wie vor grosses Potenzial.
Die Agenda 2030 ist weltweit zu einer gemeinsamen Sprache geworden – für die Länder des Südens wie für jene des Nordens. Alle tragen zur Umsetzung des Programms bei. Das gibt es ziemlich selten, oder?
MR: Ja, das ist so. Die Agenda 2030 bildet einen gemeinsamen Referenzrahmen für die nachhaltige Entwicklung, nach dem sich alle richten. Die gemeinsame Sprache, ist hier ganz wichtig – sie schafft eine gemeinsame Verantwortlichkeit. Sie bietet ein Instrument, um auf Augenhöhe miteinander zu reden und lokale sowie nationale Bemühungen in einen globalen Kontext setzen. Das ist eine ihrer grossen Stärken.
CF: Auch die Schweiz richtet sich in ihrer neuen Strategie der Internationalen Zusammenarbeit 2025–2028, die sich aktuell in der öffentlichen Vernehmlassung befindet, nach der Agenda 2030. Sie unterstützt die Entwicklungsländer bei ihrer Umsetzung der Agenda 2030, aber auch bei der Verabschiedung von Reformen, die es ihnen ermöglichen sollen, sich an der Seite der Schweiz wirksam für die Bewältigung globaler Herausforderungen einzusetzen. Die Schweiz hat zum Ziel, die Armut zu lindern und die nachhaltige Entwicklung zu fördern; somit hält die neue Strategie vier Ziele fest: Leben retten und Zugang zu einer guten Grundversorgung gewährleisten; nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen; die Umwelt schützen und den Klimawandel bekämpfen; sowie Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterstützen, und Menschenrechten Respekt verschaffen.
Die Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 des Bundesrats basiert auf der Agenda 2030. Sie legt drei Schwerpunktthemen fest: «nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion», «Klima, Energie und Biodiversität» sowie «Chancengleichheit und sozialer Zusammenhalt». Wie geht die Schweiz bei der Umsetzung dieser Ziele vor?
MR: Der Bundesrat hat es bei der Präsentation des Länderberichts der Schweiz im vergangenen Jahr so formuliert: «Die Richtung stimmt, das Tempo nicht». Die drei Schwerpunktthemen wurden gewählt, weil die Schweiz hier vor besonderen Herausforderungen steht und es einer intensiveren Abstimmung zwischen verschiedenen Politikbereichen bedarf.
Man bedenke: Nur schon innerhalb der Bundesverwaltung sind in die Umsetzung der Agenda 2030 alle sieben Departemente und die Bundeskanzlei involviert. Hinzu kommen lokale und kantonale Akteure, wie auch nicht staatliche Akteure. Das Abwägen der Interessen und die Koordination der involvierten
Gruppen ist eine grosse Aufgabe. Hierfür erarbeitet das Direktionskomitee Agenda 2030 jeweils 4-jährige Aktionspläne mit komplementären Massnahmen innerhalb der Schwerpunktthemen. Diese ergänzen die Anstrengungen, die in den Fachbereichen getätigt werden. Beraten wird das Direktionskomitee durch die neu konstituierte Begleitgruppe Agenda 2030 mit 18 Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Entscheidend für den Fortschritt bei diesen Schwerpunktthemen sind aber auch die internationalen Entwicklungen. Die Schweiz agiert nicht in einem Vakuum und muss sich international abstimmen.
Sie sprechen die internationale Ebene an. Im Moment befinden Sie sich am HLPF, an dem die Staatengemeinschaft zusammenkommt, um die Agenda 2030 zu besprechen. Wo sehen Sie aktuell Chancen für mehr internationale Koordination?
MR: Die internationale Koordination ist in fast allen Thematiken unabdingbar und findet an vielen Orten auch bereits erfolgreich statt. In einigen Bereichen, wie zum Beispiel der Schaffung von Transparenz bei nachhaltigen Finanzprodukten und -dienstleistungen, sehe ich noch weiteres Potenzial für gemeinsame Lösungen. Hier zeigt sich immer mehr, dass die Schweiz nicht nur autonom agieren kann und sich für ein international abgestimmtes Vorgehen einsetzen muss. Die Agenda 2030 ist zudem eine Plattform für den internationalen Austausch über Lösungen und Best Practices. Auch da gibt es Potenzial, so könnten sich Städte beispielsweise noch verstärkt vernetzen und austauschen.
CF: Eine weitere Gelegenheit, die internationale Koordination zu stärken, bietet sich derzeit im Wasserbereich. Die Schweiz geniesst diesbezüglich hohes Ansehen und führte neben Senegal den Vorsitz bei einem der fünf interaktiven Dialoge zum Thema «Zusammenarbeit» anlässlich der jüngsten UNO-Wasserkonferenz. Die Schweiz ist seit über 50 Jahren international im Wasserbereich tätig und legt die Schwerpunkte auf den Zugang zu sauberem Trinkwasser durch Innovation sowie eine gut integrierte Bewirtschaftung der Wasserressourcen. In der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu diesem Thema verfügen wir über grosse Erfahrung und versuchen diese zu vertiefen, indem wir Wasser nicht nur als Schlüssel zu einer nachhaltigen Entwicklung, sondern auch als Vektor für Frieden fördern.
Die Schweiz organisiert hier am HLPF einen Side-Event zum Thema Wasser. Dabei wollen wir anhand von Beispielen aus unterschiedlichen Regionen zeigen, dass sich Wasser und sanitäre Einrichtungen wie ein roter Faden durch alle nachhaltigen Entwicklungsziele der SDG-Agenda ziehen und so auch einen wichtigen Beitrag zu Frieden und Stabilität leisten.
Es bleiben sieben Jahre für die Umsetzung der Agenda 2030. Die Welt ist mit einer Serie von Krisen konfrontiert, die das Erreichen der Agenda 2030 erschweren. Was unternimmt die internationale Gemeinschaft, um auf Kurs zu bleiben?
CF: Die verschiedenen Krisen haben die internationale Zusammenarbeit der Schweiz in den letzten Jahren in der Tat stark gefordert. Um ihnen gerecht zu werden, hat sie Flexibilität bewiesen und ihre Interventionsmodalitäten an rasch wechselnde Rahmenbedingungen angepasst. Die zukünftige IZA-Strategie 2025–2028 wird diese Agilität weiter stärken und die Schweiz besser dafür ausrichten, dem globalen Charakter der heutigen Krisen gerecht zu werden.
Grundsätzlich zielt die IZA darauf ab, die Werte zu fördern, die die Stärke der Schweiz ausmachen: Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Marktwirtschaft, Menschenrechte, Gleichstellung der Geschlechter, Dialog, Solidarität, Integration von Minderheiten, humanitäre Grundsätze und das Völkerrecht. Es sind die gleichen Werte, die auch in der Agenda 2030 verankert sind und die uns die Umsetzung der SDG ermöglichen werden.
MR: Gleichzeitig steigt das Bewusstsein, dass die IZA alleine nicht alle Antworten auf diese Kumulation von Krisen liefern kann. Die letzten Jahre haben uns die Schwächen im System aufgezeigt. Es ist nun an uns, die systemischen Veränderungen – wie die Anpassungen in der internationalen Finanzarchitektur oder den stärkeren Einbezug der Wirtschaftsakteure – anzustossen. Die Agenda 2030 bietet uns hierfür einen Referenzrahmen. Sie zeigt uns die Prioritäten auf, um gestärkt aus den Krisen zu gehen, und eine widerstandsfähigere, nachhaltige Zukunft zu schaffen.