Olivier Long: diskreter Vermittler des Abkommens von Évian vom 18. März 1962

Vor 60 Jahren wurde das Abkommen von Évian zwischen Algerien und Frankreich unterzeichnet, das 132 Jahre französische Besatzung und mehr als sieben Jahre Krieg beendete. Wenig später, am 5. Juli 1962, erklärte Algerien seine Unabhängigkeit. Die Schweiz spielte als Vermittlerin eine wesentliche Rolle beim Abschluss des Abkommens von Évian, insbesondere dank der Beharrlichkeit und Diskretion eines ihrer Diplomaten, Olivier Long.

Porträt von Olivier Long, der an seinem Schreibtisch sitzt.

Die Beständigkeit und Entschlossenheit des Schweizer Diplomaten Olivier Long waren für den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen ausschlaggebend. © Keystone

Der 60. Jahrestag des Abkommens von Évian am 18. März 2022 ist ein zentraler Meilenstein in den freundschaftlichen Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen Algerien und der Schweiz. Der Jahrestag ist auch eine gute Gelegenheit, auf eines der bedeutendsten Ereignisse in der Geschichte der Guten Dienste der Schweiz zurückzublicken.

Die Rolle der Schweiz beim Zustandekommen des Abkommens, das Algerien und Frankreich am 18. März 1962 in Évian unterzeichneten, ist hierzulande kaum bekannt. Ebenfalls nur wenige kennen den Schweizer Diplomaten Olivier Long, dessen Beharrlichkeit und Entschlossenheit für den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen entscheidend waren. Bevor die Schweizer Diplomatie ins Spiel kam, hatten die provisorische Regierung der Algerischen Republik (GPRA) und Frankreich mehrmals Verhandlungen geführt, ohne jedoch eine Einigung zu erzielen.

Warum stellte die Schweiz ihre Guten Dienste zur Verfügung?

Zwischen der GPRA und der französischen Regierung fanden mehrere Treffen statt, ohne dass sich die Parteien auf die Bedingungen für einen Waffenstillstand einigen konnten.

Der Vertreter der GPRA in Rom, Taïeb Boulharouf, traf sich im Dezember 1960 mit Olivier Long und legte ihm das Ersuchen des GPRA-Präsidenten Ferhat Abbas vor, dass die Schweiz ihre Guten Dienste zur Verfügung stellen möge. Max Petitpierre, der damalige Vorsteher des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD), wie das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) früher hiess, bewilligte das Vorgehen, das im Einklang mit der aktiven Neutralitätspolitik der Schweiz stand.

Olivier Longs gute Beziehungen zu algerischen und französischen Persönlichkeiten sowie sein Charakter machten ihn zum idealen Diplomaten für diese heikle Mission. In verschiedenen Schweizer Städten fanden Geheimverhandlungen statt, und auch Longs Wohngemeinde Veyrier wurde zum diskreten Schauplatz eines wichtigen Schritts auf dem langen Weg der Unterhändler.

Aline Berdoz, Attachée der Schweizer Botschaft in Algerien, berichtet über die Rolle der Schweizer Diplomaten bei den Verhandlungen zwischen Frankreich und Algerien in Évian am 18. März 1962.

Erfolgreiche Verhandlungen dank Geheimtreffen im Privathaus von Olivier Long in Veyrier

Olivier Long organisierte weitere Treffen, bei denen die Grundlagen für Verhandlungen gelegt wurden. Anschliessend lud er Vertreter beider Seiten zu geheimen Gesprächen in sein Haus in Petit-Veyrier im Kanton Genf ein.

Laut Jean-Denys Duriaux, dem Präsidenten des Vereins «La Mémoire de Veyrier», fand dieses Treffen am 8. März 1961 statt, ein Jahr vor der Unterzeichnung des Abkommens von Évian, und zwar auf völlig unerwartete Weise. Das EPD selbst sei vorab nicht über die Einzelheiten des Treffens informiert worden, was vor allem auf die Persönlichkeit von Olivier Long zurückzuführen war. «Er war nicht nur für seine Unparteilichkeit und seine diplomatischen Fähigkeiten bekannt, sondern auch für seine sehr grosse Verschwiegenheit. Selbst seine Nachkommen in Veyrier erfuhren nie Einzelheiten über seine Beteiligung an den Verhandlungen zum Abkommen von Évian. Aus diesem Grund wurde er ‹die Sphinx› genannt.»

Das von Bäumen umgebene Anwesen war unauffällig und gut gelegen, da es sich unweit der französischen Grenze befand. «Man sagte, dass die Frösche in der Nähe des Hauses als erste vor einem Eindringling warnten. Wenn die Frösche verstummten, bedeutete das, dass sich eine unerwünschte Person auf das Grundstück geschlichen hatte», erklärt Jean-Denys Duriaux.

Algerische Vertreter steigen in Évian aus einem Hubschrauber.
Schweizer Hubschrauber sorgten für einen sicheren Transfer zum Verhandlungsort von einem Ufer des Genfersees zum anderen. © DODIS

Die Schweiz als Vermittlerin im Hintergrund

Als Vermittlerin nahm die Schweiz nicht direkt an den Gesprächen teil, leistete aber einen bedeutenden Beitrag. Indem sie die Treffen aus logistischer und sicherheitstechnischer Sicht ermöglichte und eine unparteiische Kommunikation zwischen beiden Seiten sicherstellte, sorgte sie für das erforderliche Vertrauen, das für das Zustandekommen eines Abkommens unerlässlich ist.

Nach dem Treffen in Veyrier fanden weitere Verhandlungen statt, zunächst in Évian zwischen Mai und Juni 1961 und dann im Juli 1961 in Lugrin (Frankreich), ohne dass die Parteien zu einer Einigung gelangten. Olivier Long und sein Diplomatenteam organisierten weitere Geheimgespräche zwischen den beiden Parteien, die sich im März 1962 erneut in Évian trafen. Die algerische Delegation wurde in Signal de Bougy (Waadt) untergebracht, und Schweizer Hubschrauber sorgten für einen sicheren Transport zum Verhandlungsort auf der anderen Seite des Genfersees.

Vor diesem Hintergrund wurde schliesslich am 18. März 1962 das Abkommen von Évian unterzeichnet. Die Arbeit von Olivier Long und der Schweizer Diplomatie wurde in der Weltöffentlichkeit sofort anerkannt. Erstens sorgte die Schweiz für die Aufrechterhaltung eines Kommunikationskanals zwischen den beiden Parteien. Und zweitens war die Schweiz logistisch in der Lage, den Wünschen der algerischen Delegation, nicht in Frankreich untergebracht zu werden, und der Franzosen, auf ihrem Territorium zu verhandeln, entgegenzukommen und gleichzeitig eine lückenlose Sicherheit zu gewährleisten. Aus all diesen Gründen ist das Abkommen von Évian ein herausragendes Beispiel der Politik der Guten Dienste der Schweiz.

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